Radiokolleg - Weißrussland

Über ein Land an der Wahrnehmungsgrenze (4). Gestaltung: Tanja Malle

Letzte Diktatur Europas sagt der Westen, Partisanenrepublik sagte der Osten, genauer die Sowjetunion. Bloodlands nennt es der Historiker Timothy Snyder. Viel mehr ist über das 9.5 Millionen Einwohner zählende Belarus nicht bekannt. Der Staat ist im deutschen Sprachraum als Weißrussland bekannt. Doch im Grunde handelt es sich dabei um einen Übersetzungsfehler. Denn bely steht in dem Fall nicht für weiß, sondern bedeutete im Mittelalter, in das der Name Belarus datiert, nördlich bzw. westlich. Belarus gilt es damit als westliche Rus zu übersetzen. Die Rus ist eine historische Bezeichnung für ostslawisches Siedlungsgebiet.

Heute wird das Land autoritär regiert - von Aljaksandr Lukaschenka. Seine knapp 20-jährige Herrschaft hat Spuren hinterlassen: Die Medien stehen unter staatlicher Kontrolle, Opposition, Intellektuelle und Regime-Gegner sind ins benachbarte Ausland geflüchtet. Ein Zentrum der belarus´schen Diaspora ist die litauische Hauptstadt Vilnius. Dort ist mit der einst in der belarussichen Hauptstadt Minsk beheimateten Europäischen Humanistischen Universität die weltweit einzige emigrierte Hochschule zu Hause. Der Fächerkanon war den Behörden ein Dorn im Auge gewesen, vor allem deshalb, weil nicht die offizielle Staatsideologie am Lehrplan stand. Der Rektor erhielt Morddrohungen und entschloss sich - mitsamt Hochschule - für die Emigration.
Widerstand machte das Land im Zweiten Weltkrieg bekannt - sodass es, nach Kriegsende von den Russen als Partisanenrepublik bezeichnet wurde. Das Land hatte zuvor einen hohen Preis bezahlt. Mehrfach wechselte dort der Frontverlauf zwischen Nazi-Deutschland und Sowjetunion. Die Folge waren unzählige tote Zivilisten und Militärs. Teile von Belarus und der benachbarten Ukraine werden daher heute als Bloodlands bezeichnet. Denn nirgendwo sonst verlangte der Zweite Weltkrieg so viele Tote.

Ob Bloodlands, Partisanenrepublik oder letzte Diktatur Europas - bei allen drei Zuschreibungen handelt es sich um Außenansichten auf das Land. Das Radiokolleg unternimmt eine Innenansicht und führt in ein Land an unserer Wahrnehmungsgrenze.

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