Gedanken für den Tag

Von Vladimir Vertlib, Schriftsteller. "Der Blick zurück, um nach vorne schauen zu können". Gestaltung: Alexandra Mantler

Meine Arbeit als Schriftsteller hat in einem wesentlichen Maße mit Erinnerungen zu tun. Als Jugendlicher begann ich Tagebuch zu führen: Ich versuchte, alles festzuhalten, was ich nie mehr vergessen wollte. Doch was ich vergessen musste, vergaß ich schließlich trotzdem, und was ich aufschrieb, war bald keine Chronik mehr. Die Wirklichkeit erschien mir als karge und trockene Oberfläche dessen, was ich als eigentliche Wahrheit zu erkennen glaubte. Es war nicht allzu schwer, zu dieser Wahrheit vorzustoßen. Ich brauchte sie nur zu erfinden. Dabei gab ich selten dem Wunsch nach, die Ereignisse so niederzuschreiben, wie ich sie gerne erlebt hätte. Mogeln wollte ich nicht. Fantasie war eine ernste Angelegenheit. Manchmal versuchte ich mir vorzustellen, was geschehen wäre, wenn ich in bestimmten Situationen anders reagiert hätte. Dann fügte ich Traumsequenzen und kleine Zusatzerzählungen ein. Zur Realität der Welt gehört immer auch der Konjunktiv. Die Realität der Welt war vielschichtiger als die Realität der Fakten, aber ich vergaß nie, auf welcher Bewusstseinsebene ich mich gerade befand.

Viele meiner Geschichten sind auf diese Weise entstanden - aus Erinnerung und Anschauung und aus deren kreativer Ergänzung. Nur so habe ich das Gefühl, die Welt zu begreifen und als stimmiges Ganzes zu erleben. Wenn ich beim Schreiben den Eindruck bekomme, das Erlebte, das Erfundene, vor allem aber das Erinnerte, das man nachträglich als Erlebtes wahrnimmt, gebe etwas wieder, das über die eigene Person hinausgeht, in dem sich also auch andere Menschen spiegeln können, dann kann daraus etwas Wertvolles entstehen.

Erfinden heißt nicht lügen. Wenn ich die Wahrheit erfinde, bin ich oft dünnhäutiger, schutzloser als es jene, die alles, was ich schreibe, für bare Münze nehmen, jemals ahnen können.

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Sendereihe

Playlist

Komponist/Komponistin: Pjotr Iljitsch Tschaikowski/1840-1893
Album: JOURNEYS
Titel: Souvenir de Florenz / Streichsextett in d-Moll für 2 Violinen, 2 Violas und 2 Cellos
* Adagio cantabile e con moto
Ausführende: Emerson String Quartet
Ausführender/Ausführende: Philip Setzer /violine
Ausführender/Ausführende: Eugene Drucker /violine
Ausführender/Ausführende: Lawrence Dutton /viola
Ausführender/Ausführende: David Finckel /cello
Solist/Solistin: Paul Neubauer /viola
Solist/Solistin: Colin Carr /cello
Länge: 02:00 min
Label: Sony Classical 88725470602

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