Gedanken für den Tag

13. Dezember 2013, 06:56

Der Gruß

Nach vier Wochen im sommerlich warmen Indien bin ich Ende November im nebelkalten Wien angekommen. Der Rucksack ist schnell ausgepackt: Die Schmutzwäsche. Einige feine Gewürze. Geschenke für die Familie. Das kostbarste Stück aber ist für mich eine vertrocknete rosa Rosenknospe. Ein ernster junger Mann hat sie mir zum Abschied geschenkt. Erst dachte ich, er sei 12. Jetzt weiß ich, er ist schon 16. Seine Eltern sind zu arm, um alle Kinder groß zu ziehen. Darum lebt er schon lange in der Familie des Onkels mit. Der berufstätigen Tante hilft er in der Küche. Schnell und geschickt geht er ihr zur Hand, wenn sie für die Gäste und die sechsköpfige Familie kocht. Auf Zuruf des Hausherren macht er zwischendurch auch noch all die kleinen anderen Verrichtungen, die in einem indischen Haushalt zu tun sind. Ich merke bald: Mit den Söhnen des Hauses hat er wenig gemeinsam. Mit diesen kann ich mich auf Englisch unterhalten. Mit dem jungen Mann komme ich nur durch Blicke und Gesten in Kontakt.

Als wir uns mit der Familie zum Essen setzen, verschwindet er. Erst als wir aufbrechen, sehe ich ihn wieder. Er räumt die Küche auf, wäscht das Geschirr. Nachdem die Hausfrau bedankt ist, schütteln wir dem Hausherrn die Hand und verabschieden uns von den Söhnen und der Großmutter. Zuletzt gehe ich in die Küche, um mich auch von dem jungen Mann zu verabschieden, der so viel zu diesem köstlichen Essen beigetragen hat. Nach indischer Sitte falte ich die Hände vor der Brust und verneige mich vor ihm. Danach gebe ich ihm nach westlichem Brauch die Hand. Er strahlt, nimmt eine Rose aus der Vase und überreicht sie mir mit scheuem Lächeln. Selten ist mein Abschiedsgruß so direkt im Herz eines anderen Menschen angekommen.

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