Gedanken für den Tag

von Cornelius Hell, Literaturkritiker und Übersetzer. "Ich fahr durch Schnee und weiße Nacht". Gestaltung: Alexandra Mantler

Ich fahr durch Schnee und weiße Nacht.
Der D-Zug rauscht. Der Schneesturm kracht.
Ich preß ans Fenster mein Gesicht:
O Himmelslicht! O Himmelslicht!

So beginnt ein Gedicht von Klabund - sein Name ist ein Pseudonym, gebildet aus Klabautermann und Vagabund. Ich liebe diese erste Strophe, weil sie mich an meine ersten Zugfahrten erinnert, auch wenn diese keineswegs im D-Zug stattfanden; aber Winter bedeutete damals noch Schnee, und auch ich hielt die Nase ans Fenster gepresst.
Doch beim Weiterlesen wird das Gedicht schnell bedrohlich:

Die Weihnacht hat uns hart beschert:
Blutedelstein und Eisenschwert

so beginnt die dritte Strophe. Das Gedicht ist 1916 erschienen, mitten im Ersten Weltkrieg. Da hatte auch die weihnachtliche Friedensbotschaft der Bibel keine Chance, sagen die nächsten Verszeilen:

In Tränen spielt das heilige Kind
mit Donnerklang und Wolkenwind.

Die Realität des Krieges ist sogar in die Naturbilder eingedrungen, und das Jesuskind weint. Dennoch glaubt der Dichter an die Kraft dieses Kindes und an die Macht der Sehnsucht; denn die letzten Verse lauten:

Der finstre Geist herrscht überall,
Des Kindes Spiel bringt ihn zu Fall.
Die Sehnsucht ist sein Angesicht:
O Himmelslicht! O Himmelslicht!

In der wunderbaren Doppeldeutigkeit des deutschen Wortes Himmel leuchtet hier das Licht des winterlichen Firmaments ebenso wie das weihnachtliche Himmelslicht. Am meisten aber hat es mir die Zeile über das Jesuskind angetan: "Die Sehnsucht ist sein Angesicht." Diese Sehnsucht überschreitet die Grenzen des Christentums, und sie ist auch durch keinen weihnachtlichen Konsumrausch kaputtzukriegen. Und die Sehnsucht ist allemal wichtiger als ihre Erfüllung. So versuche ich, auch wenn mir Weihnachten dieses Mal ziemlich misslungen ist, in das neue Jahr etwas mitzunehmen von der Sehnsucht, die dieses Fest wachhält. Das Abräumen des Christbaums und das Verstauen der Weihnachtssachen kann ja nicht alles sein. Klabund hat sogar mitten im Ersten Weltkrieg an die Sehnsucht geglaubt und an das Himmelslicht.

Service

Buch, Evelyne Polt-Heinzl und Christine Schmidjell, "Wintergedichte", Verlag Philipp Reclam jun.

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Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: Edvard Grieg/1843 - 1907
Bearbeiter/Bearbeiterin: Semprini
Bearbeiter/Bearbeiterin: Arrangement
Album: TV-CLASSICS / Vol.2 - DIE SCHÖNSTEN KLASSIK-HITS AUS DER RTL-WERBUNG
Titel: Solveigs Lied/instr. < "Der Winter mag scheiden" > aus "Peer Gynt" / Bearbeitung für Orchester < Werbung Licher Pilsener >
Orchester: New Abbey Light Symphony Orchestra
Leitung: Vilem Tausky
Länge: 02:00 min
Label: EMI CDC 2530762

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