Da capo: Tonspuren

Wir brauchen etwas, das uns rettet. Der höfliche Provokateur Andri Snaer Magnason. Feature von Johann Kneihs

Sehen so Rebellen aus? Andri Snær Magnason, geboren 1973, fährt einen bulligen Jeep mit reichlich Platz für seine vier Kinder. Zur Dichterlesung in seinem komfortablen Eigenheim erscheint der Staatspräsident. Fast alle Parteien einschließlich der Konservativen haben versucht, ihn anzuwerben.

Andri Snær Magnason ist erfolgreich, beliebt, und umstritten. Er bedient jedes Genre nur einmal: ein Science-Fiction-Roman, ein Theaterstück, ein Band mit Kurzgeschichten, ein Kinderbuch, in 20 Sprachen übersetzt. Verlässlich werden es Bestseller, das gilt selbst für seine Lyrik. Magnasons "Bónus-Gedichte" verkauften sich zu Tausenden in der größten isländischen Supermarktkette - trotz beißender Konsumkritik.

Magnasons größter Erfolg ist ein Sachbuch: "Traumland", in Island 20.000 Mal verkauft, vom Autor selbst verfilmt und vor kurzem auf Deutsch erschienen. Halb Sammlung von Fakten, halb poetisch-philosophisches Manifest, protestiert das Buch gegen Ausverkauf und Zerstörung von Islands Natur, um aus Wasserkraft und Erdwärme billigen Strom für Aluminiumfabriken zu erzeugen. 2006, im Erscheinungsjahr des Buchs, ketteten sich Umweltschützer an Baufahrzeuge, um Europas größten Staudamm bei Kárahnjúkar zu verhindern.

"Es mag uns gut gehen heute in Island", schrieb Magnason damals, noch vor dem isländischen Finanzfiasko. "Dennoch scheint die Nation besessen von einer Art Wahrnehmungsstörung, einer Zwangsvorstellung: Wir sind ein armes, kleines Land. Wir brauchen etwas, das uns rettet. Dass Island aus seinem Dornröschenschlaf in die Gegenwart getaumelt ist, ist nicht die Folge eines organischen, sich von innen entwickelnden Prozesses. Vielmehr wurde das Land im Zweiten Weltkrieg auf einen Schlag von der Gegenwart besetzt. Die Menschen wurden per Kaiserschnitt in die Gegenwart geholt und leiden noch heute an diesem Trauma."

Der Spross einer Ärztefamilie ist angetreten, das isländische Trauma zu heilen. Seine Medizin: Besinnung auf die Natur, Bewusstheit für Kultur. Mit Architekt/innen arbeitet er an besseren Gebäuden; er hat ethnografische Tonaufnahmen alter Gesangsdichtung veröffentlicht und in Reykjavík eine Nacht ohne Lichter durchgesetzt, damit die Sterne wieder sichtbar werden.

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