Gedanken für den Tag

von Adi Völkl, Priester und Theologe. "Das denkende Herz" - Zum 100. Geburtstag der jüdischen Mystikerin und Autorin Etty Hillesum. Gestaltung: Alexandra Mantler

Gott und Gebet

"Ich ruhe in mir selbst", hat Etty Hillesum inmitten all des Terrors der Naziherrschaft in ihr Tagebuch notiert. Woraus hat sie die Kraft geschöpft zu einem solchen unzerstörbaren Lebensgefühl, zu einer solchen Lebensfreude inmitten all der Wirrnisse und Schrecknisse ihrer Zeit? Was gibt ihr den Mut und die Unerschrockenheit in Solidarität mit ihrer Familie und ihrem Volk klar und entschieden mit diesen Menschen bis nach Auschwitz zu gehen und sich nicht in Sicherheit zu bringen, wie es ihre Freunde gewünscht und ihr geraten haben?

Ihr Therapeut, Seelenbegleiter und Freund, der Chiropsychologe Julius Spier, auch er jüdischer Herkunft, lehrt sie, nach einer anfänglichen Scheu und Zurückhaltung, diese ihre Kraftquelle immer klarer auch mit dem Namen Gott zu beschreiben: "Jetzt erscheint mir alles so einfach und so selbstverständlich. Wochenlang hat mich dieser Satz verfolgt: Man muss auch den Mut haben, auszusprechen, dass man glaubt. Das Wort "Gott" auszusprechen", schreibt Hillesum.

Sie fühlt in sich einen tiefen Brunnen und darin ist Gott. Oft liegen Steine und Geröll auf dem Brunnen und dann ist Gott begraben. Dann muss er wieder ausgegraben werden. Gott wird ihr so vertraut, dass sie schreiben kann: "Ich führe oft einen verrückten, kindlichen oder todernsten Dialog mit ihm."

Etty Hillesums Weg zu Gott ist unkonventionell und unmittelbar, ohne die Einbindung und Verbindung zu einer etablierten Religion oder Konfession. Sie findet ihn aus eigener Kraft, einzig und allein inspiriert durch die Bibel, die neben Rilke und Dostojewski zu ihren wichtigsten Büchern zählt.

Ihre zweite Quelle ist das Gebet. "Ich ziehe das Gebet wie eine schützende Wand um mich hoch, ziehe mich in das Gebet zurück wie in eine Klosterzelle und trete dann wieder heraus, gesammelter, stärker und wieder gefasst", schreibt sie.

Ich glaube, Gott und Gebet können auch heute noch Kraftquellen sein, und gerne würde ich - wie Etty Hillesum - so offen und ohne Scheu davon sprechen.

Service

Buch, J. G. Gaarlandt, "Das denkende Herz. Die Tagebücher der Etty Hillesum. 1941 - 1943", Verlag rororo

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Sendereihe

Playlist

Komponist/Komponistin: Felix Mendelssohn Bartholdy/1809 - 1847
Titel: Symphonie Nr.4 in A-Dur op.90
* Andante con moto - 2.Satz (00:05:52)
Populartitel: Italienische
Orchester: London Symphony Orchestra
Leitung: Claudio Abbado
Länge: 02:00 min
Label: DG 4153532

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