Zwischenruf

von Christine Hubka (Wien)

Vergeben und nicht vergessen

Vier Jahre ist Erwin alt, als sein Vater, Georg Weissel, am 15. Februar 1934 stirbt. Als Wachkommandant der Wiener Berufsfeuerwehr hatte Georg Weissel am 13. Februar 1934 die Feuerwehrmänner des Wiener Bezirks Floridsdorf im bewaffneten Widerstand gegen die Sicherheitskräfte des Regimes Dollfuß angeführt. Der Widerstand scheiterte. Weissel wurde wegen "Dienstverweigerung und Auflehnung" angezeigt, von einem Standgericht zum Tode verurteilt und in den frühen Morgenstunden des 15. Februar im Landesgericht Wien durch den Scharfrichter hingerichtet.

Wie sein kleiner Sohn Erwin und dessen Mutter den 16. Februar, den Tag nach dem Tod des Vaters und des Ehemannes, verbracht haben, weiß ich nicht. Wie es Hinterbliebenen eines Mannes, der wegen des Verbrechens der "Auflehnung" gehenkt wurde, damals ergangen ist, kann ich nur ahnen. Trotz intensiver Recherche konnte ich den Namen der Witwe des Widerstandskämpfers nicht erfahren, obwohl sich ihr Leben durch den Tod des Mannes unwiderruflich verändert hat.

Das alles ist vor genau 80 Jahren geschehen. Die Welt hat sich weiter gedreht. Auch die Gedanken und Einsichten, die Beurteilung der Ereignisse im Februar 1934 haben sich verändert. Sichtbares Zeichen dafür ist die Weisselgasse in Wien Floridsdorf. Im Jahr 1946 wurde die damalige Kretzgasse nach Georg Weissel, dem "Auflehner und Dienstverweigerer" von der Stadt Wien umbenannt. Vom hingerichteten Verbrecher zum Namensgeber einer Straße am Ort des Geschehens. Was für ein Wandel in der Beurteilung der Ereignisse im Februar 1934..

In der Weisselgasse Nummer eins steht heute die Kirche der evangelischen Pfarrgemeinde Wien Floridsdorf. Am Giebel der Kirche ist ein schlichtes Kreuz aufgemalt. Drei Mahnungen gibt es den Vorübergehenden mit. Die erste heißt: Setzt eure aktuellen Einsichten und Ansichten nicht absolut. Die politischen nicht und auch nicht alle anderen. Seit Jesus am Kreuz hingerichtet wurde, haben sich Weltreiche erhoben und sind wieder versunken. Mächtige und solche, die sich dafür gehalten haben, sind gekommen und wieder verschwunden. Auch diejenigen, die mit Gewalt ihren Machtanspruch durchgesetzt und Menschen im Widerstand das Leben genommen haben.

Darum ist die zweite Botschaft dieses Kreuzes in der Weisselgasse: Wer die Todesstrafe vollstreckt, kann eines Tages als Mörder da stehen. Wer nach der Todesstrafe ruft, setzt sich und seine Sicht absolut. Er stellt sich an die Stelle Gottes.

Die dritte Botschaft aber weist in die Zukunft: Das Kreuz ruft vom Giebel der Kirche: Vergeben ja, vergessen nein. Denn Vergeben heißt ja nicht: Tun wir so, als wäre nichts geschehen. Es heißt auch nicht, gut zu heißen, was ganz und gar nicht gut gewesen ist. Wer vergibt, erinnert sich und verzichtet darauf, die Täter zu hassen und sich an ihnen zu rächen. So, wie Jesus zuletzt gebetet hat: Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.

Ich weiß nicht, ob Erwin Weissel, der Sohn des hingerichteten Kämpfers, evangelisch war. Ich halte das eher für unwahrscheinlich. Ein unverbesserlicher Menschenfreund ist er, der Universitätsprofessor für Sozialpolitik, aber gewesen. So jedenfalls nennt ihn ein Kollege in einer Festschrift, die er für den Sohn des Gehenkten im Jahr 2000 herausgegeben hat. Erwin Weissel hat das, was seiner Familie widerfahren ist, wohl nie vergessen. Zeit seines Lebens stand er ökonomischen und politischen Moden kritisch und skeptisch gegenüber. Vergeben ja, vergessen nein. So kann ein Mensch, eine Gruppe, ein Volk versöhnt aus einer schlimmen Geschichte in die Zukunft gehen.

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