Gedanken für den Tag

von Johanna Schwanberg, Kunstwissenschafterin und Direktorin des Wiener Dommuseums. "Visionär mittels Pinsel und Farbe" - Zum 400. Todestag von El Greco. Gestaltung: Alexandra Mantler

Alles scheint zu leuchten und zu flackern. Es herrscht eine gespenstisch-surreale Atmosphäre. Die Farben sind unnatürlich grell: giftgrün und schwefelgelb. Teilweise aber auch düster-fahlgrau bis leichenhaft weiß. Zu sehen sind mehrere nackte Körper: Sie vollziehen schlangenartige Bewegungen. Im Vordergrund steht isoliert die zentrale Gestalt: Es ist eine männliche Figur in einem blauen Gewand. Sie reißt die Arme in die Höhe und blickt in den Himmel.

Was für ein Bild, was für ein Thema! Gemalt hat es El Greco in den Jahren vor seinem Tod. Das Gemälde ist ein Fragment geblieben und hängt heute im Metropolitan Museum in New York. Es war ursprünglich nicht für ein Museum gedacht, sondern für einen von drei Altären, die El Greco für ein Spital am Rande Toledos malen sollte.

Lange hat man über den Inhalt dieses Bildes gerätselt; man hat es als Darstellung der himmlischen und der irdischen Liebe gedeutet. Seit Beginn des vorigen Jahrhunderts ist man sich weitgehend einig, dass es sich um eine Interpretation der Bibelstelle "Die Öffnung des fünften Siegels" aus der Offenbarung des Johannes handelt. Die ekstatische Gestalt ist also der Seher - im Hintergrund das von ihm Geschaute: Die Seelen der Märtyrer, die Vergeltung für ihren Tod verlangen.

El Grecos Gemälde fesselt aufgrund der visionären Kraft und der radikal subjektiven Ausdrucksweise: Für seine Kritiker war es Anlass, ihn als "Geisterseher" oder "Wahnsinnigen" abzutun. Von Avantgarde-Künstlern wie Picasso, Cezanne, Kokoschka oder Beckmann wurde es frenetisch gefeiert. Es löste geradezu ein "El Greco-Fieber" aus, als es 1905 nach Paris gelangte.

Mich interessiert, dass El Greco hier ein Thema gewählt hat, das ganz mit dem Denken der spanischen Malerei seiner Zeit verbunden ist: nämlich der Darstellung von Visionen. Zugleich hat er sich komplett von den damals üblichen Konventionen gelöst. Dieser Mut, Grenzen zu sprengen um neue Wege zu gehen, beeindruckt. Nur dadurch hat El Greco etwas kreiert, das heute genauso aktuell erscheint wie damals.

Service

Kostenfreie Podcasts:
Gedanken für den Tag - XML
Gedanken für den Tag - iTunes

Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: Biagio Marini/1594 - 1663
Album: Canti amorosi - Liebeslieder des Frühbarock aus England und Italien
Titel: Gagliarda / für 5 Streicher und Cembalo
Ausführende: Ensemble Musica Antiqua Wien
Ausführender/Ausführende: Hiro Kurosaki /Violine
Ausführender/Ausführende: Barbara Klebel /Violine
Ausführender/Ausführende: Lynn Pascher Fletcher /Viola
Ausführender/Ausführende: Dodo Kukelka /Violoncello
Ausführender/Ausführende: Ulli Fussenegg /Violine
Ausführender/Ausführende: Bernhard Klebel /Cembalo
Leitung: Bernhard Klebel
Länge: 02:00 min
Label: Christophorus CD 74555

weiteren Inhalt einblenden