Gedanken für den Tag

von Guido Tartarotti, Theaterkritiker, Kolumnist bei der Tageszeitung "Kurier" und Kabarettist. "Gottes kleiner Bruder" - Zum 450. Geburtstag von William Shakespeare. Gestaltung: Alexandra Mantler

Shakespeare, der kleine Bruder Gottes, wertet nicht. Er fällt keine Urteile. Sein großer Bruder hat die Menschen erschaffen, er zeigt, wie sie sind - Shakespeare zeigt die Menschen in ihrer ganzen, erschreckenden Bandbreite, von abgrundtief böse bis strahlend gut. Oft anhand ein und desselben Menschen. Oft trennt das eine vom anderen nur ein paar Sätze.

Auch Shakespeares Blick auf die Liebe ist radikal und modern und gnadenlos. Anders als andere Dramatiker scheint er ihr zu misstrauen. Sie ist für ihn weniger Himmelsmacht, als entweder zerstörende Kraft - oder überhaupt überbewertet. Auch hier zeigt sich: Shakespeare weiß sehr viel über uns Menschen. Nichts idealisieren wir so wie die Liebe, nichts leben wir so banal und ernüchternd wie die Liebe.

Das Lustige dabei ist, dass Shakespeare mit Romeo und Julia das berühmteste Liebespaar der Literaturgeschichte erfunden hat. Dabei wirkt diese Erfindung, genau betrachtet, wie eine Panne. Denn die Geschichte von Romeo und Julia ist in Wahrheit nicht mehr als eine Schwärmerei unter Pubertierenden. Zu Beginn des Stücks laboriert Romeo noch ganz furchtbar an der Liebe zu einer anderen, bevor ihm Julia dann doch als interessanteres Ziel erscheint. Die beiden lieben einander vor allem deshalb, weil es so schwierig ist - das ist sehr typisch für junge Menschen: Interessant ist, was kompliziert ist. Würde diese Liebesgeschichte nicht mit sechs Toten enden, sie wäre nicht weiter erwähnenswert.

Auch das macht Shakespeare so einzigartig: Er wählt immer den richtigen Ausschnitt aus. Anders gesagt: Wir müssen ihm dankbar dafür sein, dass er Romeo und Julia sterben ließ. Somit hat er sich und uns Stücke wie "Romeo und Julia in Paartherapie", "Romeo und Julia streiten um das Sorgerecht für den Hund" und "Romeo ist mit dem Zahlen der Alimente in Rückstand" erspart.

Service

Guido Tartarotti

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Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: Anonym
Album: In the Streets and Theatres of London - Straßengesänge und Theatermusik aus Elisabethanischer Zeit
Titel: Green Sleeves
Greensleeves
Ausführende: Musicians of Swanne Alley
Länge: 02:00 min
Label: Virgin VC 7907892

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