Gedanken für den Tag

von Cornelius Hell, Literaturkritiker. "Sag die Wahrheit, nicht nur das, was real ist" - Zum 100. Geburtstag des Theatermenschen und Schriftstellers George Tabori. Gestaltung: Alexandra Mantler

Als George Tabori vor sieben Jahren starb, war er der ungekrönte König des deutschsprachigen Theaters und eine Ausnahmeerscheinung. In der Arbeit mit den Schauspielerinnen und Schauspielern verstand er sich nicht als Regisseur - er wollte nicht vordenken, die Linie vorgeben oder gar vorexerzieren - sondern als Spielmacher: Ihm ging es darum, eine Aufführung gemeinsam zu erarbeiten, Fragen zu stellen. Tabori, der lange in Hollywood für den Film gearbeitet hatte, glaubte enthusiastisch an das Theater: Weil dort jeder Abend einmalig und unwiederholbar ist.

Seine eigenen Stücke haben immer wieder verblüfft, weil in ihnen alles zur Farce wird, auch die schmerzhafteste Situation, selbst die Erinnerung an die ermordeten Juden und Jüdinnen. "O Haupt voll Witz und Wunden" titelte die Frankfurter Allgemeine Zeitung in Anspielung an das alte Kirchenlied, als Tabori starb. Tabori selbst fiel in diesem Zusammenhang ein Vortrag seines Vaters in Budapest ein: "Ich erinnere mich, als ich etwa vier Jahre alt war, da hatte er in einer Vorstellung Dias aus dem Armenviertel von Budapest gezeigt. Ich saß in der Ehrenloge neben dem Erzbischof von Ungarn, und bevor es diese furchtbaren Bilder zu sehen gab, hatte mein Vater eine Filmklamotte gezeigt. Es war eine Mischung aus Humor und Grauen. Die Menschen hatten sehr gelacht und waren sehr betroffen, als man Bilder von Kindern sah, die von Ratten gebissen wurden. Der Erzbischof drehte sich zu mir um und sagte: ,Das Problem mit deinem Vater ist, mein Junge, er kann sich nicht entscheiden, ob er uns zum Weinen oder zum Lachen bringen soll.' Für mich war es irgendwie klar, es ist so in meinem Kopf, und gewissermaßen bestimmt diese Ambivalenz auch meine Dramaturgie."

Das Lachen, das einem im Halse stecken bleibt, das Gelächter, das den Schrecken mildert und ihn gleichzeitig noch schmerzhafter macht - das ist Taboris Theaterwelt, das macht ihm keiner nach. Seine Stücke voll greller, brutaler Komik versöhnen Grauen und Gelächter, Schrecken und Schönheit.

Service

George Tabori, Autodafé und Exodus. Erinnerungen, Verlag Klaus Wagenbach
George Tabori, Das Oper, Verlag Steidl
George Tabori, Gefährten zur linken Hand", Verlag Steidl
George Tabori, Ein guter Mord, Verlag Steidl
George Tabori, Tod in Post Aarif, Verlag Steidl
George Tabori, Theater. Band 1, Verlag Steidl
George Tabori, Mein Kampf. Textausgabe und Materialien, Verlag Klett-Cotta
George Tabori, Mutters Courage, Verlag Klaus Wagenbach
Stefan Scholz, Von der humanisierenden Kraft des Scheiterns. George Tabori - Ein Fremdprophet in postmoderner Zeit, Verlag W. Kohlhammer
Anat Feinberg, George Tabori, Deutscher Taschenbuch Verlag
Jan Strümpel, Vorstellungen vom Holocaust. George Taboris Erinnerungs-Spiele, Wallstein Verlag

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Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: Modest Mussorgsky/1839 - 1881
Gesamttitel: KLAVIERMUSIK VON MODEST MUSSORGSKY
Titel: Impromptu passione - Stück für Klavier
Solist/Solistin: Valery Afanassiev /Klavier, Steinway
Länge: 02:00 min
Label: Denon CO 79046

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