Gedanken für den Tag

von Cornelius Hell, Literaturkritiker. "Sag die Wahrheit, nicht nur das, was real ist" - Zum 100. Geburtstag des Theatermenschen und Schriftstellers George Tabori. Gestaltung: Alexandra Mantler

Bis zu seinem Tod hat der große Theatermann Georges Tabori an seinem autobiografischen Text "Exodus" gearbeitet. Einmal erinnert er sich darin, wie er bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in London auf einer Parkbank saß. Er notiert: "Sprich, Erinnerung", sagte mein Lieblingsautor Nabokov. Wie wahr ist Erinnerung, und vor allem: Was ist Wahrheit? Die Sonne, der Himmel, die Bank unter meinem Hintern sind wahr, ich fühle die Hitze noch jetzt unter meinen Knien." Tabori bleibt bei den sinnlichen Details, er weigert sich, sie vorschnell zu einem Ganzen zusammenzukleistern.

Taboris Lebens-Erinnerungen in den Texten "Autodafé" und "Exodus", die jetzt zum 100. Geburtstag in einem Band erschienen sind, sind eine bunte Folge von Fakten und Flunkereien, von Anekdoten und Grotesken, die von Budapest über Berlin, London, Sofia und Istanbul nach Jerusalem führen. Nur einmal wird es ganz still zwischen den sich überstürzenden Ereignissen, und diese Stelle vergisst niemand, der Taboris Erinnerungen gelesen hat: Als er den so lange hinausgeschobenen Besuch in Auschwitz macht, um nach Spuren seines Vaters zu suchen, der dort ermordet wurde. Doch der Ort bleibt ihm fremd. Er schreibt: "Ich ging weiter, bedacht, nichts als Trauer zu empfinden, aber es gelang mir nicht, dumme Gedanken quollen aus meinem ungehorsamen Geist." Auf den Fotos sahen alle gleich aus, der Vater hätte jeder sein können, Tabori hebt einen Stein auf, steckt ihn in die Tasche als Souvenir, der ganze Ort ist ein Souvenir. Hier findet er den Vater nicht, erst später, in einem wilden Traum, begegnet er ihm. Und noch später im Flugzeug, wo er "schreiend wie ein verwundeter Esel", seinen Kummer in die Papiertüte erbricht.

Die brennende Notwendigkeit, den ermordeten Vater in der Erinnerung lebendig werden zu lassen, und die krasse Unmöglichkeit, das zu erreichen; die Aufgabe, an den Holocaust zu erinnern, und das Scheitern ritualisierter Gedenk-Rituale - niemand hat das so beschrieben wie Georges Tabori.

Service

George Tabori, Autodafé und Exodus. Erinnerungen, Verlag Klaus Wagenbach
George Tabori, Das Oper, Verlag Steidl
George Tabori, Gefährten zur linken Hand", Verlag Steidl
George Tabori, Ein guter Mord, Verlag Steidl
George Tabori, Tod in Post Aarif, Verlag Steidl
George Tabori, Theater. Band 1, Verlag Steidl
George Tabori, Mein Kampf. Textausgabe und Materialien, Verlag Klett-Cotta
George Tabori, Mutters Courage, Verlag Klaus Wagenbach
Stefan Scholz, Von der humanisierenden Kraft des Scheiterns. George Tabori - Ein Fremdprophet in postmoderner Zeit, Verlag W. Kohlhammer
Anat Feinberg, George Tabori, Deutscher Taschenbuch Verlag
Jan Strümpel, Vorstellungen vom Holocaust. George Taboris Erinnerungs-Spiele, Wallstein Verlag

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Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: Zbigniew Preisner/geb.1955
Gesamttitel: ELISA / Original Filmmusik
Titel: Nocturne II/instr.
Solist/Solistin: Konrad Mastylo /Klavier
Länge: 02:00 min
Label: Philips 5267502

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