Zwischenruf

von Dr. Christoph Weist (Wien)

Das Elend des Nationalismus

Viele Gründe für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs sind in den vergangenen Wochen und Monaten diskutiert worden, verschiedene Gründe, komplexe Gründe, auch Gründe, die sich widersprechen. Ein Grund wird fast immer genannt, und er dürfte auch die tragende Ursache für den Schrecken jener vier Jahre und der Jahrzehnte danach sein. Bis heute ist dieser Grund nicht ausgestorben, im Gegenteil, immer wieder feiert er fröhliche Urständ: Es ist der Nationalismus.

Was eine Nation ist, weiß bis heute niemand so recht. Aber die Ideologie, dass die Nation absoluten Vorrang vor allen anderen Bindungen haben muss, ist spätestens seit dem 18. Jahrhundert in zahllosen Köpfen - und leider auch Herzen - tief verankert: Meine Nation zuerst! Soziologen bescheinigen dieser Denkweise "starke Gewaltpotentiale". Denn sie bedeutet Ausschluss für alle anderen, die nicht dazugehören, bis hin zu "Ausscheidung" oder "Ausmerzung" sogernannter "schädlicher" oder "krankmachender Fremdkörper". Auch das Zurückholen von "Volksgenossen" aus anderen Territorien gehört dazu.

Für einen Kirchenmann ist es nicht angenehm zu sagen: Gerade der Erste Weltkrieg hat gezeigt, dass es Kirchen waren, die oft die Rolle einer ideologischen Speerspitze des Nationalismus übernommen haben. Viele Kriegspredigten sind dafür ein bestürzendes Zeugnis. Zu lesen sind sie in Archiven und derzeit in Ausstellungen.

Allerdings: Auch an den Vorbereitungen des mutigen, aber gescheiterten Attentats auf Hitler heute vor 70 Jahren, das den Zweiten Weltkrieg, den schrecklichen Gipfel des Nationalismus, beenden sollte, waren bewusste Christen beteiligt. Darunter der international vernetzte evangelische Theologe Dietrich Bonhoeffer. Sie dachten anders. Schon um ihres Opfers Willen ist ganz klar festzuhalten:

Was eine Nation ist, weiß bis heute niemand so recht. Jedenfalls ist sie ein Produkt der Geschichte, eine menschliche Vorstellung. Nein, sie ist nicht - wie es auch schon hieß - ein "Gedanke Gottes", sie ist kein Produkt des Schöpfungshandelns Gottes, sie ist keine "Schöpfungsordnung", in ihr zeigt sich nicht Gottes Geist als "Volksgeist". Es gibt auch kein von Gott gegebenes "heiliges Land", keine "heilige Erde", die man mit allen Mitteln erkämpfen oder verteidigen muss.

Wo immer solche Vorstellungen im Namen des Christentums propagiert wurden und noch vertreten werden, ist christlicher Glaube nicht nur missverstanden, er wird missbraucht. Mit böser Absicht, bestenfalls in verantwortungsloser Unbesonnenheit nimmt man ihm seinen weltumspannenden Sinn. Der ist in der Bibel begründet. Die Verkündigung der Botschaft von der Liebe Gottes zu allen Menschen ist ganz einfach grenzenlos, ihre Zielrichtung ist die ganze Welt. Das ist kein fernes Ideal, sondern der Apostel Paulus kann es ganz konkret beschreiben: "Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus." (Gal 3,28) Anders gesagt: Kein Staat, kein Land, keine Abstammung, kein Geschlecht ist für den christlichen Glauben besser als die anderen. Wo das geleugnet wird, sind die Folgen furchtbar.

Deshalb kann ich nur mit Scham auf solche Verirrungen kirchlichen Denkens zurückblicken, und mit Ärger erfüllt es mich, wenn sie noch heute irgendwo aufleben, auch in Europa. Denn ich bin sehr stolz darauf, dass die christliche Botschaft, wenn sie recht verkündigt und recht verstanden wird, so umfassend ist. Dass sie nicht nur irgendwelchen Gruppen und Teilen der Welt gilt, sondern der ganzen Welt. Der ganzen Welt, wie Gott sie liebt und wie er sie vor seinen Menschen in all ihrer Vielfalt als Geschenk ausbreitet.

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