Gedanken für den Tag

von Johanna Schwanberg, Leiterin des Wiener Dommuseums. "Verletzbarer Meister des Plakativen" - Zum 150. Geburtstag von Henri de Toulouse Lautrec. Gestaltung: Alexandra Mantler

Blaugrün, gelb, braun und weiß. Aus den bunten Flecken kristallisiert sich eine weibliche Figur heraus. Sie trägt einen Hut, sitzt auf einer Bank und liest.

Gemalt hat dieses Frauenporträt der Jahrhundertwende-Künstler Henri de Toulouse-Lautrec. An sich hängt es in seinem Geburtsort, dem südfranzösischen Albi. Derzeit ist es in einer Ausstellung im Kunstforum Wien zu Gast. Als ich dieses Ölgemälde aus dem Jahr 1882 gesehen habe, hat es mich aufgrund der lockeren Malweise und des reizvollen Farbspiels sofort in den Bann gezogen. Es hat mich aber auch aufgrund des Motivs interessiert. Denn die Frau auf dem Bild ist die Mutter des Künstlers.

Adéle de Toulouse-Lautrec hatte sicher kein leichtes Los. Ihr Zweitgeborener starb bereits als Kleinkind. Ihre Ehe mit dem Cousin ersten Grades ging bald in die Brüche. Ihr Erstgeborener, der spätere Maler, litt an einer erbbedingten Knochenerkrankung. Auch ihn überlebte sie letztendlich um mehr als drei Jahrzehnte.

Ich bin selbst Mutter zweier Kinder und es berührt mich, wie Adéle de Toulouse-Lautrec zeitlebens versucht hat, die körperlichen wie seelischen Schmerzen ihres Sohnes durch Überbehütung zu kompensieren. Dies gelang ihr genauso wenig wie uns allen anderen Müttern, die wir am liebsten jegliches Leid von den Kindern fernhalten würden. Denn der Maler musste seinen eigenen Weg gehen. Einen radikalen, kreativen, letztendlich auch selbstzerstörerischen. Zumindest stellte die Mutter aber immer einen ruhenden Halt für ihn dar. So starb der 36-Jährige in ihrem Wohnsitz und nicht auf dem väterlichen Gut seiner Geburt.

Toulouse-Lautrec hatte eine enge Beziehung zu seiner "armen, heiligen Frau Mutter", wie er sie nannte. Die Gräfin war vor allem in der Frühzeit sein liebstes Modell. Auffällig dabei: Sie ist stets sitzend und stark verinnerlicht dargestellt; den Blick gesenkt, die Augenlider geschlossen. Diese kontemplative Widergabe der Mutter steht in starkem Kontrast zu den wenigen Bildern des Vaters, den der Maler in Bewegung als wilden und ungreifbaren Reiter oder Jäger festgehalten hat.

Genau das fasziniert mich an bildender Kunst. Auch ohne etwas sprachlich festzumachen, erzählen Bilder Geschichten: über gelebte oder nicht gelebte Beziehungen. Über Sehnsüchte und Träume. Durch das was gezeigt, aber genauso durch das, was nicht gezeigt wird.

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Sendereihe

Playlist

Komponist/Komponistin: Joseph Kosma/1905 - 1969
Album: AFTERNOON IN PARIS
Titel: Autumn leaves/instr. / aus dem Film "Les portes de la nuit" / "Pforten der Nacht"
Anderssprachiger Titel: Les feuilles mortes/instr.
Solist/Solistin: Stephane Grappelli /Violine m.Begl.
Solist/Solistin: Eberhard Weber /Bass
Solist/Solistin: Marc Hemmeler /Piano
Solist/Solistin: Kenny Clare /Drums
Länge: 02:00 min
Label: MPS 8218652

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