Zwischenruf

von Pfarrer Michael Chalupka (Wien)

Die junge Amerikanerin, mit der sie als Studentin an der Princeton University ihr Zimmer teilte, war erst einmal geschockt über ihre nigerianische Zimmergenossin, erzählt Chimamanda Ngozi Adichie, heute gefeierte Schriftstellerin und hierzulande vor allem bekannt durch ihren letzten Roman "Americanah". Wieso sie denn so gut Englisch spreche, wurde sie gefragt und die Fragestellerin war irritiert, als sie die Antwort bekam, dass Englisch in Nigeria Amtssprache sei, noch irritierter war sie aber, als Chimamanda ihr statt der erhofften "Stammesmusik", eine CD von Mariah Carey als ihre Lieblingsmusik vorspielte.

Chimamanda Ngozi Adichie entsprach nicht dem Bild, das sich ihre Zimmerkollegin von einer Afrikanerin machte. Die amerikanische Studentin wusste doch, woher jemand aus Afrika kommt. Sie hatte schon, bevor sie Chiamamanda kennenlernte, Mitleid mit ihr, mit ihrer Rückständigkeit. Sie kannte doch das Afrika der Hungersnöte, die Kinder mit den großen Augen und den aufgequollenen Bäuchen, sie kannte die Bilder von Bürgerkriegen und die Bilder der Bootsflüchtlinge. Eine junge, gut ausgebildete Frau, die ihr selbst wohl ähnlicher war, als dem Bild, das sie sich von einer Frau aus Afrika machte, irritierte sie zutiefst. Chimamanda Ngozi Adichie nennt dieses Phänomen, "die Gefahr der einfachen Geschichte".

Einfache Geschichten gibt es viele. Sie machen das Leben einfacher, übersichtlicher. Da gibt es die einfachen Geschichten von den Bettlern, die in organisierten Banden vor den Supermärkten ihre Armut nur vortäuschten. Da gibt es die einfachen Geschichten von den angeblichen Wirtschaftsflüchtlingen, die ihre Heimat nur verlassen, um hierzulande von der Sozialhilfe zu leben, oder die einfache Geschichte von den Behinderten, die auf unser Mitleid angewiesen wären, weil sie selbst ja nicht wüssten, was gut für sie ist. Einfache Geschichten machen das Leben einfacher, übersichtlicher, simpler und flacher. Man kennt sich aus, mit ihnen lässt es sich gut leben. Wenn ich die simple Geschichte von den Bettlerbanden glaube, muss ich ihnen nichts geben und hab auch noch ein gutes Gewissen, wenn ich die simple Geschichte von den Wirtschaftsflüchtlingen glaube, die der Sozialstaat versorgt, dann kann ich mich rechtschaffen im Lehnstuhl empören.

Im Brief des Apostel Paulus an die Galater heißt es:" Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus."

Hier wird die große Utopie entworfen, dass diese einfachen Geschichten, die Menschen festschreiben und festhalten, in dem was ihnen an Rollen und Vorurteilen zugeschrieben wird, aufgelöst werden in der großen Utopie der Inklusion, des eins Sein in Christus, wie Paulus das in seiner theologischen Sprache ausdrückt. Doch auch er muss auf die einfachen Geschichten zurückgreifen, auf die Gegensatzpaare, Sklave - Freier, Mann -Frau und Jude - Grieche, um die Gemeinde in Galata zu beschreiben.

Was aber machen, wenn die große Utopie, dass alle eins sind, die Utopie der vollkommenen Inklusion, dass jede und jeder in all ihren und seinen Facetten und Verschiedenheiten ihren gleichberechtigten Platz haben, und Zugang zu allem, was Gott uns geschenkt hat und die Erde bereit hält, noch auf sich warten lässt?

Chiamamanda Ngozi Adichie meint: Geschichten erzählen hilft. Nicht die einfachen, die simplen Geschichten, sondern die bunten, überraschenden Geschichten, die Hoffnung geben, die im Horizont der Utopie stehen und diesen Horizont ausleuchten. Denn jede und jeder sind Hoffnungsträger, tragen Hoffnung in sich, die nicht von der simplen, platten, einfachen Geschichte überdeckt werden sollen.

Sophia, 13, mit ihrer Familie geflohen vor dem Regime im Iran, hat mir ihre Geschichte erzählt. Sie erzählt von ihrem Cheerleaderteam, von ihrer Rolle als Flyer, der Leichtesten oben in der Pyramide, erzählt von ihren Lehrern im Waldviertel, die ihr in sechs Monaten Deutsch beigebracht hätten. Erzählt auch von ihrer Sorge, dass viele in ihr nur das Ausländermädchen sehen, das Flüchtlingskind. Doch Sophias Welt ist mehr, ist viel mehr. Eine Welt voller Geschichten, die erzählt werden wollen, aber vor allem gehört werden wollen. Sophia ist eine Hoffnungsträgerin. Ob sie denn nie die Hoffnung verloren hätte, habe ich sie gefragt. Und sie hat geantwortet. Nein, hoffnungslos war ich noch nie, das hat meine Mama verboten.

Service

Buch, Chimamanda Ngozi Adichie, "Americanah", Verlag S. Fischer

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