Gedanken für den Tag

von Cornelius Hell, Literaturkritiker und Übersetzer. "Manuskripte brennen nicht" - Zum 75. Todestag von Michail Bulgakow. Gestaltung: Alexandra Mantler

"Es war Frühling, eine heiße Dämmerstunde am Patriarchenteich." Fast dreißig Jahre ist es her, dass ich diesen berühmten Anfang des Romans "Meister und Margarita" von Michail Bulgakow zum ersten Mal gelesen habe. Ich war damals Zivildiener in Salzburg und gerade von zwei Jahren Arbeit in der Sowjetunion - als Germanistiklektor im okkupierten Litauen - zurückgekehrt. Dort hatten mir die engsten Freunde gesagt: "Meister und Margarita" musst du unbedingt lesen! So wichtig war ihnen dieser Roman, dass ich mich schämte, ihn nicht zu kennen. Mitte der achtziger Jahre konnte man ihn in der Sowjetunion schon legal lesen, aber wenn man sich für ihn deklarierte oder sich wissenschaftlich damit beschäftigen wollte, so war das ein Karrierehindernis.

Das erste Buch, das ich mir nach meiner Rückkehr nach Österreich kaufte, war also "Meister und Margarita". Auf den Busfahrten zwischen Wohnung und Arbeit zog zwar Salzburg an den Fensterscheiben vorbei, doch ich war in Moskau am Patriarchenteich. Dabei hatte ich das reale Moskau hassen gelernt wie keine andere Stadt - als Hort des Sowjetkommunismus und des russischen Nationalismus. Doch in der Roman-Stadt war ich zu Hause, sie hatte alles, was ich selbst in mir trug und niemandem erzählen konnte: Warum ich meine Angst vor Mikrofonen nicht so schnell loswerden konnte oder wie ich die Atmosphäre der Gerüchte und Halbinformationen und des Misstrauens erlebt hatte. Im Roman "Meister und Margarita" ist das alles spürbar, eingesickert in die detailgenauen Beschreibungen und die Beziehungen der handelnden Personen. Zwischen dem allem ist noch ein Jesus-Roman ganz eigener Art eingelagert. Und aus allen Ecken springen einem das Surreale und die schreienden Grotesken entgegen.

Heute, wo die Sowjetunion Geschichte ist und ich seither unzählige andere Bücher gelesen habe, funktioniert es immer noch: Ich sitze in einem Wiener Kaffeehaus oder in der Straßenbahn und nehme nichts mehr wahr - ich bin am Patriarchenteich. Wenn ich Bulgakows "Meister und Margarita" lese, spüre ich wichtige Kontinuitäten meines eigenen Lebens.

Service

Buch, Michail Bulgakow, "Meister und Margarita", DTV
Buch, Michail Bulgakow, "Das hündische Herz", DTV
Buch, Michail Bulgakow, "Die weiße Garde", Luchterhand Literaturverlag
Buch, Michail Bulgakow, "Gesammelte Werke", Verlag Volk und Welt

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Sendereihe

Playlist

Komponist/Komponistin: Nikolai Rimsky Korssakoff/1844 - 1908
Album: Russische Klaviermusik
Titel: Novelette op.11 Nr.2 - für Klavier
Solist/Solistin: Margaret Fingerhut /Klavier
Länge: 02:00 min
Label: Chandos 8439

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