Gedanken für den Tag

von Susanne Scholl, Journalistin. "Flucht und andere Neuigkeiten". Gestaltung: Alexandra Mantler

Woran ich denke

Manchmal denke ich daran. Alles stehen und liegen lassen und weit weg gehen. Und dann denke ich an meine Freundin Eva, die aus dem Kaukasus stammt, wo ständig Krieg herrscht. Die aus einer Familie kommt, die schon einmal aus der Heimat vertrieben worden ist, damals unter Stalin. Und die schon Heimweh bekommt, wenn sie nur ein paar Tage in der Nachbarrepublik zubringt.

Für mich, die ich aus einer Familie Flüchtender stamme, ist das verständlich. Allzu viele sind an der Notwendigkeit, alles aufzugeben, zerbrochen. Allzu viele konnten den Verlust von Sprache und Gewohnheiten, von Speisen, Gerüchen und Jahreszeiten nicht ertragen.

Als ich noch ein Kind war, war ich überzeugt, dass man als Flüchtling liebevoll aufgenommen würde. Aufgenommen werden müsste. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Menschen andere, die in so großer Not waren, einfach zurückstoßen konnten. Dann, als ich älter wurde, begann ich die Geschichten zu studieren. Die Geschichten der Flüchtenden, die man nicht in die sicheren Länder lassen wollte. Und dann las ich die Briefe meines Großvaters, der noch im Dezember 1939 - also schon nach Kriegsbeginn - vor den Nazis nach Belgien geflohen war. Und in einigen dieser Briefe beschrieb er, wie die belgischen Beamten ihn misstrauisch ausfragten - und ihm immer wieder damit drohten, ihn nach Deutschland zurückzuschicken. Österreich gab es ja nicht mehr und es hätte auch keinen Unterschied gemacht. Später haben ihn die Nazis doch noch erwischt. In Belgien. Wo er sich so todunglücklich fühlte, obwohl er dort vorübergehend in Sicherheit war. Und da begann ich langsam erst so richtig zu begreifen, was das heißt, flüchten zu müssen. Und nirgends willkommen zu sein. Und ich frage mich, wo unser Mitgefühl lebt, wo es sich versteckt hält, wo wir es eingesperrt haben.

Service

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Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: Peter Iljitsch Tschaikowsky
Gesamttitel: 50 Russische Volkslieder für Klavier zu vier Händen
Titel: O mein Feld, mein schönes Feld - Russisches Volkslied Nr.43 für Klavier zu vier Händen
Ausführende: Duo Crommelynck
Ausführender/Ausführende: Patrick Crommelynck /Klavier
Ausführender/Ausführende: Taeko Kuwata /Klavier
Länge: 02:00 min
Label: Claves 508805

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