Radiokolleg - Religion

Quelle des Friedens oder der Gewalt? (3). Gestaltung: Johannes Kaup

Islamistische Terroranschläge haben die europäische Gesellschaft elektrisiert. Die Medien sind seitdem geprägt von einem teilweise hitzigen und tendenziell islamophob geprägten Diskurs. Auffällig ist, dass nicht so sehr die politischen und ökonomischen Hintergründe des dschihadistischen Terrors im Fokus standen, sondern vor allem der Islam und damit generell das Verhältnis von Religion und Gewalt.

Dass Religion für soziale, ökonomische und politische Ziele, zur Abgrenzung von anderen und zur Legitimation von Gewalt missbraucht werden kann, ist ein historisches Faktum, aber nichts Neues. Daran erinnern die Kreuzzüge des Mittelalters, Ketzerverfolgungen oder der Dreißigjährige Krieg. Diese Ereignisse haben zu einem tiefgreifenden Wandel im Verständnis des Religiösen beigetragen und führten letztlich zu einem humanisierten, aufgeklärten Verhältnis zwischen staatlicher Macht und Religion.

Die Frage ist, ob es durch Religion heute mehr Friede oder mehr Gewalt auf der Welt gibt. Ein Rückblick auf das 20. Jahrhundert zeigt deutlich: Die beiden Weltkriege, die Genozide, die systematische Vernichtung in Todeslagern und die nukleare Massenvernichtung können nicht den Religionen in die Schuhe geschoben werden. Andererseits gibt es seit Anbeginn der menschlichen Kultur tatsächlich ein sehr verwickeltes Verhältnis von Religion und Gewalt. Allerdings ist Religion nicht die Ursache von Gewalt, sondern eine Antwort auf sie. Es beginnt mit einem anthropologischen Problem. Dieses hat der an der Stanford University lehrende franko-amerikanische Kulturanthropologe René Girard in seinem Lebenswerk untersucht. Im Unterschied zum Tier entsteht die menschliche Aggression aus einem rivalisierenden Wettbewerb um limitierte Güter, der am Ende bis zur Tötung des Rivalen gehen kann. Diese "mimetische" Gewalt kann ganze Gemeinschaften anstecken und in die Krise chaotischer Gewalt führen. Die verheerende Gewalt "aller gegen alle" verwandelte sich in die Gewalt "aller gegen einen".

Als Lösung dieser Krise erfand die archaische Gesellschaft den "Sündenbock-Mechanismus": Ein einzelnes Opfer wird von der Gemeinschaft als Ursache des "Bösen" ausgemacht und ermordet. Weil dieses (unschuldige) Opfer aber eine Zeit lang der Gemeinschaft Einheit und Frieden bringt, wird es schließlich vergöttlicht. Davon erzählen die Mythen der Menschheit. Die hebräische Bibel und die Evangelien sind - nach Girard - die einzigen religiösen Texte, die das Erzählschema der Mythen durchbrechen und umkehren. Sie erzählen die Geschichte der Gewalt nicht mehr aus der Perspektive der Täter, sondern aus der des Opfers. Viele der Propheten bis hin zu Jesus werden vom Mob verfolgt und sogar ermordet. Aber die Gewalt wird in diesen Texten nicht mehr "heilig" gesprochen, sondern wird zum Skandal. Damit beginnt religionsgeschichtlich eine Revolution. Dieses Verhalten der "Solidarität mit den Opfern" prägt unsere Gesellschaft bis in die Gegenwart.

Service

Rene Girard: Das Heilige und die Gewalt, Fischer Verlag 1994
Rene Girard: Das Ende der Gewalt, Herder Verlag 2009
Rene Girard: Der Sündenbock, Benziger Verlag
Raymund Schwager: Brauchen wir einen Sündenböck? Gewalt und Erlösung in den biblischen Schriften, Kösel Verlag 1989
Wolfgang Palaver: Gewalt und Religion. Gespräche mit Rene Girard, Matthes & Seitz Berlin 2010
Jozef Niewiadomski: Religion erzeugt Gewalt. Einspruch!, Lit Verlag 2003
Richard Rohr: Vision einer neuen Welt. Die Bergpredigt des Jesus von Nazareth, Herder Verlag
Susanne Heine (Hrsg.): Christen und Muslime im Gespräch. Eine Verständigung über Kernthemen der Theologie, Gütersloher Verlagshaus 2014
Susanne Heine/Rüdiger Lohlker/Richard Potz: Muslime in Österreich
Jan Assmann: Exodus. Die Revolution der Alten Welt, C.H.Beck 2015
Jan Heiner Tück: Monotheismus unter Generalverdacht. Zum Gespräch mit Jan Assmann, Herder Verlag 2015
Udo Steinbach/Werner Ende: Der Islam in der Gegenwart, C.H.Beck Verlag 2005
Tariq Ramadan: Radikale Reform. Die Botschaft des Islam für die moderne Gesellschaft, Diederichs 2009
Tahar Ben Jelloun: Der Islam, der uns Angst macht, Berlin Verlag 2015
Guido Steinberg: Kalifat des Schreckens. IS und die Bedrohung durch den islamistischen Terror, Knaur Verlag 2015
Rainer Herrmann: Endstation Islamischer Staat? Staatsversagen und Religionskrieg in der arabischen Welt, DTV 2015
Slavoj Zizek: Blasphemische Gedanken. Islam und Moderne, Ullstein Verlag 2015
Marc Ellis: Zwischen Hoffnung und Verrat. Schritte auf dem Weg zu einer jüdischen Theologie der Befreiung, Edition Exodus
Karen Armstrong: Im Namen Gottes. Religion und Gewalt. Pattloch 2014

Sendereihe

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