Gedanken für den Tag

9. Mai 2015, 06:56

In meinem 1943 eröffneten Grünschnabel-Tagebuch konzentrierte ich von Anbeginn meine Beobachtungen auf politische Ereignisse und auf das Hobby meines Vaters, der beruflich Briefträger, aber eigentlich ausgebildeter Gärtner war. Das las sich dann am 2. Juli 1945 so: "US-Präsident Truman stellt im Senat Charta der Vereinten Nationen vor, Vater erntet ersten Karfiol im Garten." Beide Ereignisse hatten immerhin eines gemeinsam: Was natürlich wachsen soll, muss sorgsam begleitet und zur rechten Stunde geprüft werden, ob es brauchbar ist. Das traf auf unseren Karfiol und auf die UNO zu.

Schon im 15. Jahrhundert hatte der Böhmenkönig Georg von Podiebrad einen Friedensbund aller Fürstentümer und Republiken der Christenheit angeregt. Er bekam wenig Widerhall. Nach dem Ersten Weltkrieg konzentrierten sich viele Hoffnungen auf den 1920 gegründeten Völkerbund. Er geriet zum totalen Flop. Immer wieder siegte nationalistische Machtpolitik. Noch war die Zeit nicht reif. Eine Lösung brachte die schrittweise wachsende Erkenntnis vieler Völker: Krieg ist kein Naturgesetz, sondern Menschenwerk, und der Friede demnach auch - das war eine beharrlich herangereifte Frucht der intellektuellen Evolution. Sie garantiert noch für lange Zeit keinen Frieden auf dem ganzen Erdkreis. Zwischen EU-Ländern freilich kann es keinen Krieg mehr geben - nicht, weil wir Europäer moralischer als andere Völker wären, sondern dank der Verschränkung der Wirtschaften aller Mitgliedsstaaten.

Wenn wir nicht aus unentschuldbarer Torheit dieses Werk der Aussöhnung Europas scheitern lassen, könnte der Zweite Weltkrieg der letzte Krieg bisheriger Machart in unseren Breiten gewesen sein.

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