Radiokolleg - Inszenierte Natürlichkeit

Über die Sehnsucht nach Authentizität (2). Gestaltung: Christine Scheucher

"Jeder Mensch", schrieb der Schweizer Schriftsteller Max Frisch, "erfindet sich eine Geschichte, die er für sein Leben hält." Im Zeitalter sozialer Netzwerke ist dieser Akt der fiktionalen Selbstvergewisserung zur täglichen Routine geworden. Jede Statusmeldung wird zum autobiografischen Fragment - und das Smartphone, dieses modernste Instrument der Selbstoptimierung und Selbstbespiegelung, macht uns zu Zuschauer/innen des eigenen Lebens: Wir werfen einen prüfenden Blick in den digitalen Handspiegel, und schon geht ein Selfie um die Welt. Via Twitter, Instagram, oder Facebook.

Trotz dieser täglichen Übung der Selbststilisierung und Selbstretusche, die längst nicht mehr nur für Celebrities oder Stars zur Routine gehört, bleibt eine Sehnsucht ungebrochen: Die Sehnsucht nach dem Echten, Unverfälschten, dem Authentischen. In einer durch und durch mediatisierten Welt ist Authentizität das ultimative Gütesiegel, mit dem sich Politiker/innen, Medienmacher/innen, ja Personen des öffentlichen Lebens schmücken. "Man muss authentisch bleiben", diese gebetsmühlenartig wiederholte Formel ist das Kondensat einer zeitgenössischen Alltagsmoral, die das Authentische mit dem Guten, Ehrlichen, dem Wahrhaftigen gleichsetzt.

Inszenierte Natürlichkeit hat Konjunktur: in Scripted-Reality-Formaten, im Talkshowstriptease des Privatfernsehens, auf You Tube und in den Coaching-Seminaren für Spitzenkräfte und Politiker/innen, die vermitteln sollen, wie man "authentisch" rüberkommt. Dass man sich in dem Moment, in dem man sich nach Authentizität sehnt, bereits mitten im Zustand der "Entfremdung" befindet, gehört freilich zu den Paradoxien der Authentizitätsdebatte, die bereits Oscar Wilde in einem berühmten Bonmot auf den Punkt brachte: "Natürlich zu sein, ist die schwierigste Pose, die man einnehmen muss."

Service

Erika Fischer-Lichte: "Inszenierte Authentizität", Francke Verlag
Helmut Lethen: "Versionen des Authentischen" In: Hartmut Böhme (Hg) "Literatur und Kulturwissenschaften", Fischer Taschenbuch
Richard Sennett: "Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität", Berliner Taschenbuch Verlag
Theodor W. Adorno: "Wörter aus der Fremde" In: "Noten zur Literatur", Suhrkamp
Susanne Knaller: "Ein Wort aus der Fremde. Geschichte und Theorie des Begriffs Authentizität", Unversitätsverlag Winter
Ervin Goffmann: "Wir alle spielen Theater"
Lionel Trilling: "Das Ende der Aufrichtigkeit", Hanser

Sendereihe

Gestaltung