Gedanken für den Tag

von Brigitte Schwens-Harrant, Germanistin, Theologin und Feuilletonchefin der Wochenzeitung "Die Furche". "Und es ist doch möglich ..." - Zum 20. Todestag von Michael Ende. Gestaltung: Alexandra Mantler

Wenn es einen Wirklichkeitssinn gibt, schreibt Robert Musil in seinem Roman "Der Mann ohne Eigenschaften", "muss es auch etwas geben, das man Möglichkeitssinn nennen kann.

Wer ihn besitzt, sagt beispielsweise nicht: Hier ist dies oder das geschehen, wird geschehen, muss geschehen; sondern er erfindet: Hier könnte, sollte oder müsste geschehen; und wenn man ihm von irgendetwas erklärt, dass es so sei, wie es sei, dann denkt er: Nun, es könnte wahrscheinlich auch anders sein."

"Man sieht", heißt es bei Musil weiter, "dass die Folgen solcher schöpferischer Anlage bemerkenswert sein können, und bedauerlicherweise lassen sie nicht selten das, was die Menschen bewundern, falsch erscheinen und das, was sie verbieten, als erlaubt und wohl auch beides als gleichgültig. Solche Möglichkeitsmenschen leben, wie man sagt, in einem feineren Gespinst, in einem Gespinst von Dunst, Einbildung, Träumerei und Konjunktiven; Kindern, die diesen Hang haben, treibt man ihn nachdrücklich aus und nennt solche Menschen vor ihnen Phantasten, Träumer, Schwächlinge und Besserwisser oder Krittler."

Michael Ende hingegen treibt seinen Lesern einen solchen Hang nachdrücklich ein. Der Möglichkeitssinn, die Fähigkeit, "alles, was ebenso gut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist", ist vielleicht überhaupt eine der Grundlagen, um Literatur zu schaffen - und um sie lesen zu können. Der Schriftsteller Michael Ende jedenfalls besaß diese Fähigkeit in besonderem Ausmaß. Wirklichkeit und Phantasie waren für den Autor dabei eben keine Gegensätze, die einander ausschließen.

",Es gibt Menschen, die können nie nach Phantásien kommen', sagte Herr Koreander," in Michael Endes Buch "Die unendliche Geschichte", und es gibt Menschen, die können es, aber sie bleiben für immer dort. Und dann gibt es noch einige, die gehen nach Phantásien und kehren wieder zurück. So wie du. Und die machen beide Welten gesund.'"

Die Bücher Michael Endes laden ein, die Wirklichkeit nicht zu scheuen, aber als Aufgabe und Erfindung zu behandeln, um es mit Robert Musil zu sagen, denn: "es könnte wahrscheinlich auch anders sein". Sie laden ein, eine neue Welt zu suchen, in der es sich wohnen lässt, um es mit Michael Ende selbst zu sagen, "eine neue Welt zu finden, in der es sich wohnen lässt" und "wenn wir keine finden, dann zaubern wir uns eine".

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Sendereihe

Playlist

Komponist/Komponistin: Robert Folk
Gesamttitel: DIE UNENDLICHE GESCHICHTE II - AUF DER SUCHE NACH PHANTASIEN / Original Filmmusik
Titel: Morning in Fantasia/instr.
Orchester: Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks /Mitglieder
Orchester: Bayerisches Staatsorchester
Orchester: Bayerisches Staatsopernorchester
Orchester: Großes Rundfunkorchester Berlin
Länge: 02:00 min
Label: WEA 9031726572

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