Gedanken für den Tag

von Julya Rabinowich, Schriftstellerin. "Ankommen. Weiterkommen". Gestaltung: Alexandra Mantler

Fluchten und Wortlosigkeit

Ich selbst habe als russischsprachige Siebenjährige das Fallen ins Wortlose durchaus traumatisch erlebt und mir die Sprache der neuen Heimat über Jahre erkämpft. Ich danke immer noch meiner Volksschullehrerin, die mich im freien Fall aufgefangen und mir den Glauben an mein Weiterkommen ermöglicht hat. Ich danke allen, die mir damals halfen und die die Geduld aufbrachten, meinem Stottern zuzuhören bis ich mit den ausgewürgten Sätzen fertig war- und nicht desinteressiert aus dem Gespräch ausgestiegen sind. Ich kenne das Verstummen und ich weiß, wie schwer es ist, sich aus der Stille heraus zu wagen: und dennoch ging es mir selbst um so vieles leichter als den minderjährigen unbegleiteten Flüchtlingen, die jetzt in Österreich ankommen. Ich war geborgen in Familie, wir waren alle gemeinsam gerettet, ich konnte mich anlehnen, ich war Kind und durfte Kind bleiben. Später, als ich für Flüchtlinge dolmetschte, war für mich trotz der bedrückenden Geschichten der erhebendste Moment immer der, wenn ich dieses Schweigen für andere aufheben durfte, als ihre vorübergehende geborgte Sprachquelle.

Unbegleitet geflüchtete Kinder, die sprachlos in eine neue Welt eintreten, erleben den Geburtsvorgang quasi ein zweites Mal. Es ist noch nicht so lange her, dass sie sich nicht so verständigen konnten, wie die Erwachsenen, es ist noch nicht so lange her, als der Prozess einsetzte, der im Spracherwerb mündet. Aber dieses Mal sind sie diesem Prozess völlig allein ausgesetzt. Das ist ein in seiner Grausamkeit nicht zu unterschätzender Zustand. Es ist schwer genug, eine solche lebensgefährliche Reise alleine zu bestreiten. Flucht stellt bereits Erwachsene vor bodenlose Krisen und Herausforderungen - um wie viel härter ist also dasselbe Schicksal für minderjährige Kinder oder Jugendliche, die ganz auf sich allein gestellt sind? Vielleicht sind diese Kinder und Jugendlichen alleine aufgebrochen, vielleicht sind die Bezugspersonen unterwegs verlorengegangen. Hinter den meisten liegen Krieg, Gewalt und Angst. Aber auch auf dem Weg liegen immer noch oft genug Krieg, Gewalt und Angst. So ganz allein die Angst, die Einsamkeit, die unterwegs mit großer Sicherheit wartende Gefahr zu überwinden ist eine unglaubliche Leistung. Und was passiert dann, wenn die rettende Zuflucht erreicht worden ist? Der Idealzustand ist natürlich der einer gesicherten Ankunft und eines Wachsens in geschütztem Rahmen.

Service

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Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: Wolfgang Amadeus Mozart/1756 - 1791
Titel: Symphonie Nr.31 in D-Dur KV 297 (300a)
* Andante - 2.Satz (00:05:34)
Populartitel: Pariser Symphonie
Orchester: Wiener Philharmoniker
Leitung: James Levine
Länge: 02:00 min
Label: DG 4191462

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