Zwischenruf

von Prof. Ulrich Körtner (Wien)

Gesinnungs- und Verantwortungsethik

In seinem berühmten Vortrag "Politik als Beruf" aus dem Jahr 1919 hat der Soziologe Max Weber die Unterscheidung zwischen Gesinnungsethik und Verantwortungsethik eingeführt. Während der Gesinnungsethiker die moralische Qualität des Handelns in erster Linie an den moralischen Prinzipien und Absichten bemisst, fragt der Verantwortungsethiker auch nach den möglichen Folgen seines Tuns.

In der öffentlichen Debatte darüber, wie Europa und seine Mitgliedsstaaten auf den massenhaften Zustrom von Flüchtlingen reagieren sollen, prallen gesinnungs- und verantwortungsethische Sichtweisen aufeinander. Die anfängliche Euphorie, mit der hierzulande, vor allem aber in Deutschland, die über den Balkan kommenden Flüchtlinge willkommen geheißen wurden, und die bewundernswerte spontane Hilfsbereitschaft der Bevölkerung sind Ausdruck einer gesinnungsethischen Haltung. Gesinnungsethisch argumentieren auch diejenigen, die keine Begrenzung des Zuzugs von Flüchtlingen und sonstigen Migranten akzeptieren wollen. Das Motto "Kein Mensch ist illegal - Refugees Welcome!", unter der die Großdemonstration am 3. Oktober in Wien stand, ist Gesinnungsethik pur. Um mögliche Folgen für die Gesamtgesellschaft, das politische Gemeinwesen - und damit womöglich auch für die Flüchtlinge selbst - macht sie sich freilich keine ausreichenden Gedanken.

Moralische Überheblichkeit

Verfechter dieser politischen Linie treten nicht selten mit einem hochmoralischen Anspruch auf, um nicht zu sagen mit einem Gestus der moralischen Überlegenheit. Wer auf mögliche Probleme bei der Bewältigung der anstehenden Integrationsaufgaben hinweist, auf Verwerfungen, die im Sozialsystem entstehen können, weil es zu einem Verteilungskampf im unteren Bereich der Gesellschaft kommt - etwa wenn es um billigen Wohnraum geht -, läuft Gefahr, als Rechter und Rassist beschimpft zu werden. Der angesehene deutsche Historiker Heinrich August Winkler, Mitglied der SPD und ganz gewiss kein Feind der offenen Gesellschaft, kritisiert - ich meine zu Recht - die moralische Überheblichkeit, mit der Deutschland in Europa seine anfängliche Linie in der Flüchtlingspolitik zum Maß aller Dinge erklärt hat.

Eine verantwortungsethische Position kann nicht darüber hinwegsehen, dass gerade der offene Verfassungsstaat ohne Grenzen und Begrenzungen nicht bestehen kann. Damit soll keineswegs einer Politik der Abschottung oder der Aushöhlung des Asylrechts das Wort geredet werden. Der deutsche Jurist und ehemalige Verfassungsrichter Udo di Fabio gibt zu bedenken: Gerade ein Staat, der für Zuwanderung offen ist - und einen solchen wünsche ich mir -, braucht drei wesentliche Elemente, damit ein gutes Zusammenleben gelingen kann: Kontrolle über das Staatsgebiet, über die Zusammensetzung der Bevölkerung und über eine einheitliche Staatsgewalt.

Mangel an politischer Verantwortung

Auf solcher Grundlage eine aktive und schlüssige Flüchtlings- und Einwanderungspolitik zu gestalten, statt nur die Krise zu verwalten, daran mangelt es hierzulande. Die sogenannte Flüchtlingskrise ist vor allem eine hausgemachte Politikkrise. Schon lange vor dem Anschwellen der Flüchtlingsströme haben die Regierenden den Eindruck vermittelt, ihrer Aufgabe nicht gewachsen zu sein. Wer freilich aus dem Unbehagen und den Ängsten der Bevölkerung politisches Kapital schlagen will, ohne tragfähige Lösungen anzubieten, und die Grundprinzipien einer offenen Gesellschaft in Frage stellt, handelt erst recht politisch verantwortungslos.

Die Kirchen, Diakonie und Caritas treten in der Flüchtlingsfrage bislang vor allem für eine gesinnungsethische Haltung ein. Ich würde mir wünschen, dass sie stärker einen verantwortungsethischen Politikansatz unterstützen. Das wäre jedenfalls gut evangelisch.

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