Gedanken für den Tag

2. November 2015, 06:56

Es gibt viele Möglichkeiten, an Tote zu erinnern. An der evangelischen Kirche "Am Tabor" in 1020 Wien steht auf einer Tafel neben dem Kircheneingang: "Die evangelische Pfarrgemeinde erinnert und gedenkt der jüdischen Opfer, die vom Naziregime deportiert und ermordet worden sind. Wir bekennen, dass wir zu wenig Wachsamkeit und Zivilcourage gezeigt haben."

Während der Arbeit an "Maly Trostinec - Das Totenbuch" musste ich immer wieder an diese Tafel denken. "Zu wenig Wachsamkeit und zu wenig Zivilcourage gezeigt haben" - Was heißt das heute? Nicht: Was hätte ich 1938 getan, wie hätte ich reagiert, als 1941 und 1942 bei Tageslicht Tausende Menschen zum Aspangbahnhof geschafft und in den Osten deportiert worden sind? "Zu wenig Wachsamkeit und zu wenig Zivilcourage" - was heißt das 2015?

Ich bin noch nicht ausgeschlafen, ich denke daran, was alles heute zu erledigen ist - das Leben ist nicht einfach und dieser Tag wird es sicher auch nicht werden - wo soll ich die Energie für Wachsamkeit und Zivilcourage hernehmen? Mein Blick fällt auf das Gurkenglas im Vorzimmer, in dem ich meine Euro- und Cent-Münzen sammle. Vielleicht ist das gar nicht so kompliziert mit der Wachsamkeit: Ich muss ja nicht gleich alle Probleme dieser Welt lösen. Hinsehen und nicht wegsehen, daran denken, was jemand brauchen könnte. Ich nehme meinen Mantel aus dem Vorzimmerschrank -weil mein Sohn Johannes so gewachsen ist, hängen dort auch zwei tadellose, ihm aber zu kleine, Winterjacken. Ich werde sie zum Westbahnhof tragen - ein kleiner Umweg nur und zwei syrische Flüchtlinge werden nicht länger frieren. Ich greife ins Gurkenglas, stecke ein paar Münzen in die Manteltasche, um sie dem ersten Bettler zu geben, den ich heute treffen werde und gehe aus der Tür ins Leben hinein.

Service

Buch, Waltraud Barton (Hg.), "Das Totenbuch - Maly Trostinec. Den Toten ihre Namen geben", Edition Ausblick

IM-MER. Initiative Malvine - Maly Trostinec erinnern
Edition Ausblick

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Sendereihe

• Gedanken für den Tag

Gestaltung

• Alexandra Mantler