Gedanken für den Tag

von Cornelius Hell, Literaturkritiker und Übersetzer. "Weltpoesie ist Weltversöhnung" - Zum 150. Todestag des Dichters und Orientalisten Friedrich Rückert. Gestaltung: Alexandra Mantler

"Als ich erwacht' in der Nacht' und dacht' es graue der Morgen,
war der verspätete Mond leuchtend am Himmel zu sehn..."

Bei den Anfangszeilen dieses Gedichts von Friedrich Rückert bin ich hängengeblieben - nicht nur, weil ich in letzter Zeit nicht gut schlafe und oft in der Nacht wach werde, sondern weil mich der Klang der ersten Zeile in seinen Bann gezogen hat. Einfach unglaublich, wie jemand auf so engem Raum drei Reimwörter unterbringt, ohne dass es steif oder gekünstelt wirkt. Als ich erwacht' in der Nacht' und dacht' es graue der Morgen - das fließt wie von selbst.

Diese scheinbare Einfachheit und Leichtigkeit ist aber das Produkt ständiger Übung. Friedrich Rückert, dessen Todestag sich am kommenden Sonntag zum 150. Mal jährt, hat täglich gedichtet, ja sogar ein "Liedertagebuch" geführt. Die Verse müssen nur so hervorgesprudelt sein aus ihm. Leider ist ihm diese Überproduktion zum Verhängnis geworden. Er hat nämlich so viel geschrieben, wie kaum jemand lesen kann, und in dem leeren Stroh, das er manchmal auch gedroschen hat, ist es schwer, die Perlen zu finden. So wurde Friedrich Rückert als biedermeierlicher Verseschmied abgetan, und wer weiß, ob wir ihn noch kennen würden, wenn es nicht die Rückert-Lieder und die Kindertotenlieder von Gustav Mahler gäbe.

Das tägliche Dichten war für Rückert genauso notwendig wie das tägliche Üben für einen Pianisten. Für ihn hatte die Kunst eine handwerkliche Basis. Damit befand er sich in Einklang mit den orientalischen Dichtern, die er übersetzte, und auch die deutschsprachige Dichtung hat bis zur Barockzeit Poesie vor allem als Spiel mit überlieferten Formen verstanden. Seit dem Sturm und Drang und der Romantik zählen hingegen Originalität und Individualität. Heute, wo Individualität zu einem fast erzwungenen Lebenskonzept geworden ist, kann man der spielerischen Weiterentwicklung von Traditionen ja vielleicht wieder etwas abgewinnen.

Ich jedenfalls beneide Friedrich Rückert. Viele Texte wären entstanden, auch viele Briefe geschrieben worden, wenn ich meine Sätze einfach fließen ließe. Aber meist kontrolliere ich sie schon, bevor ich sie hinschreibe, und würge sie damit ab. Jeden Tag schreiben und die Sätze fließen lassen - was für ein Reichtum könnte da entstehen!

Service

Buch, Friedrich Rückert, "Kindertodtenlieder und andere Texte des Jahres 1834", Wallstein Verlag (=Friedrich Rückerts Werke. Historisch-kritische Ausgabe "Schweinfurter Edition")
Annemarie Schimmel (Hg.), "Friedrich Rückert, Ausgewählte Werke", Insel Verlag
Walter Schmitz (Hg.), "Friedrich Rückert, Gedichte", Reclam Verlag
Friedrich Rückert, "Erinnerungen aus den Kinderjahren eines Dorfamtmannsohns", Wallstein Verlag
"Der Koran". Übersetzt von Friedrich Rückert. Anaconda Verlag
Friedrich Rückert. "Die Weisheit des Brahmanen", Anaconda Verlag
Annemarie Schimmel, Friedrich Rückert, "Lebensbild und Einführung in sein Werk", Wallstein Verlag
Rudolf Kreutner (Hg.), "Der Weltpoet. Friedrich Rückert 1788 - 1866. Dichter, Orientalist, Zeitkritiker", Wallstein Verlag

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Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Titel: GFT 160125 Gedanken für den Tag / Cornelius Hell
Länge: 03:48 min

Komponist/Komponistin: Franz Schubert/1797 - 1828
Titel: Duo für Violine und Klavier in A-Dur DV 574 op.162
Sonate
* Allegro moderato - 1.Satz (00:08:49)
Solist/Solistin: Isaac Stern /Violine
Solist/Solistin: Daniel Barenboim /Klavier
Länge: 01:00 min
Label: Sony S2K 44504

Komponist/Komponistin: Franz Schubert/1797 - 1828
Titel: Duo für Violine und Klavier in A-Dur DV 574 op.162
Sonate
* Allegro vivace - 4.Satz (00:05:17)
Solist/Solistin: Isaac Stern /Violine
Solist/Solistin: Daniel Barenboim /Klavier
Länge: 01:00 min
Label: Sony S2K 44504

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