Zwischenruf

von Gisela Ebmer (Wien)

Kinder lernen das Märchen vom Dornröschen kennen, das durch einen wunderschönen Prinzen nach 100-jährigem Schlaf wachgeküsst wird. Mädchen wollen oft Prinzessin sein mit der Sehnsucht nach dem schönen Prinzen, der sie auf Händen trägt.

Aber da gibt es nicht nur die wunderschönen, zärtlichen Prinzen. Da gibt es in den Medien und persönlichen Erfahrungen mehr und mehr Berichte über Männer, die sich zusammenrotten, Frauen massiv belästigen oder gar vergewaltigen. In Indien, in Köln, in Wien und anderswo. Ein Nein von Frauen, die noch immer viel zu wenig lernen, es deutlich auszusprechen, gilt oft auch nicht als Nein, sondern wird vielleicht sogar als Aufforderung verstanden.

Ich denke an Tamar, von der in der Bibel im 2. Samuelbuch erzählt wird. Sie lebte vor etwa 3000 Jahren und war eine wunderschöne Tochter des berühmten Königs David, von dem auch Jesus nach der Tradition abstammt.

"Amnon, der Sohn Davids, verliebte sich in sie ... Amnon hatte einen Freund, und dessen Name war Jonadab, ein kluger Mann ... Der sagte zu ihm: Leg dich auf dein Bett und stell dich krank. Kommt dann dein Vater, um nach dir zu sehen, so sage zu ihm: Es möge doch Tamar, meine Schwester kommen, um mir zu essen zu geben."

Männer rotten sich zusammen. Der Halbbruder Tamars und Erstgeborener Davids und sein Cousin Jonadab. Auch David selber spielt mit, besucht Amnon am Krankenbett und lässt auf dessen Wunsch die hübsche Halbschwester kommen.

Tamar kommt zum Krankenbett. Sie bäckt Kuchen für Amnon.Er sieht ihr zu, schickt alle Diener hinaus und verlangt von ihr, dass sie mit ihm schläft. Sie aber sagt zu ihm: 'Nicht, mein Bruder, vergewaltige mich nicht, denn solches darf nicht geschehen in Israel. Diese Schandtat darfst du nicht begehen.' Es gab das klare Gesetz Gottes, dass innerfamiliäre Beziehungen, auch unter Halbgeschwistern, nicht erlaubt sind.

"Er aber wollte nicht auf ihre Stimme hören und vergewaltigte sie und schlief mit ihr. Dann aber empfand Amnon abgrundtiefen Hass auf sie und sagte zu ihr: ,Steh auf und geh'. Einem Diener befahl er, sie hinauszuschicken und die Tür zu verriegeln.

Tamar zerriss ihr Jungfernkleid, streute Asche auf ihr Haupt und ging schreiend davon. Ihr Bruder Absalom schließlich bat sie, darüber zu schweigen. 'Nimm dir diese Sache nicht zu Herzen. Denn Amnon ist ja schließlich dein Bruder'. Und Tamar blieb vernichtet im Hause Absaloms, ihres Bruders."

Tamar wird in der Bibel nie wieder erwähnt. Sie verschwindet durch das Schweigen. Heute noch haben missbrauchte Frauen massive Probleme, in der Gesellschaft wieder Fuß zu fassen, Beziehungen einzugehen, Selbstvertrauen zu entwickeln.

Es gibt in unseren Tagen Berichte über Vergewaltigungen in den Medien. Gottseidank. Sie werden nicht totgeschwiegen. Es gibt klare Gesetze in unserem Land und klare Verurteilungen der Täter. Und doch denke ich mir: Männer mit Migrationshintergrund kann man leicht anklagen. Trotzdem passiert noch immer 90% der Gewalt an Frauen in Österreich im engen Verwandten- oder Bekanntenkreis. Darüber wird weiterhin geschwiegen. Denn, wie in der biblischen Geschichte: Er ist ja mein Vater, mein Bruder, mein Ehemann. Den zeigt man nicht an. Die Dunkelziffer ist hoch.

Die Bibel schweigt darüber nicht, auch wenn die Täter gerne Stillschweigen hätten. Das ist die frohe Botschaft. Und ich hoffe, dass die Medienberichterstattung heute Frauen und Kinder dazu ermutigt, ihr Schweigen zu brechen. Und uns hellhörig macht auf ganz kleine Anzeichen von Gewalt gegenüber den Schwächsten, die oft ganz subtil im Familienkreis anfängt und lange fortgeführt wird. Es muss nicht alles in die Medien kommen. Aber Frauen und Kinder sollen wissen, dass es Beratungsstellen gibt, an die sie sich wenden können, dass ihnen Anwälte und Therapeutinnen zur Verfügung gestellt werden, auch wenn andere vielleicht noch immer lieber das Stillschweigen verordnen würden.

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