Gedanken für den Tag

von Johnny M. Bertl, Musiker. "Dunkelgrau und zartbitter" - Gedanken zum 70. Geburtstag von Ludwig Hirsch. Gestaltung: Alexandra Mantler

Gegensätze

Am besten erklärt man Stille, indem man ohrenbetäubenden Krach schlägt und dann plötzlich damit aufhört.

"Gegensätze interessieren mich", sagte Ludwig Hirsch, "die eine Seite mit der anderen erklären. Wenn alle nach rechts schauen, schau ich nach links, was man da im Schatten verborgen alles sieht, das interessiert mich." Gegensätze sind die wichtigsten Zutaten der Musik, der Malerei, der Literatur, ja des Lebens schlechthin, denn sie erzeugen Spannung.

Was wäre James Bond ohne seine berühmten Gegenspieler, die nicht umsonst mit hochkarätigen Schauspielern besetzt werden. Und in diesem Sinne hat Ludwig Hirsch auch die Figuren, die in seinen Liedern vorkommen ausgestattet: widersprüchlich, mit Charaktereigenschaften, in krassem Gegensatz zueinander stehend.

"Der Herr Haslinger" zum Beispiel, der im Beserlpark die kranken Blumen heimlich gießt und die armen Tauben füttert, entpuppt sich als Kinderschänder. Er ist beides: herzzerreißender alter Opa und verabscheuungswürdiges Monster.

Gegensätze machen also Figuren interessant, Filme spannend, ja sie sind sogar gut für die Gesundheit: ein Saunadurchgang und dann ein Sprung ins kalte Becken regen den Kreislauf an. Aber der wohl wichtigste Gegensatz für die Menschheit ist die Existenz von positiver und negativer elektrischer Ladung. Wenn man diese beiden Zustände nämlich durch einen Draht verbindet, fließt Strom. Gegensätze haben also - könnte man sagen - eine äußerst positive Wirkung.

Warum ist es aber dann für uns so schwierig, die Gegensätze von Völkern und Kulturen positiv zu nutzen? Warum werden in diesem Bereich Gegensätze immer nur als Gefahr identifiziert? Ich bin überzeugt, dass hier unser Arterhaltungstrieb eine Art Immunsystem aktiviert, das andere Lebensformen als Feinde einstuft. Das hatte in der Evolutionsgeschichte wohl seine Berechtigung.

Aber die kognitive Fähigkeit der Menschen hat die Welt inzwischen global gemacht und gewisse Evolutionsgesetze überholt. Drum glaube ich, dass wir heute besser beraten wären, das Immunsystem abzuschalten und stattdessen die Energie der Unterschiede zu nützen, so wie wir es anderswo tun. Die Gegensätze der Kulturen sind wahrscheinlich der geistige Treibstoff der Zukunft.

Service

Buch, Andy Zahradnik, Cornelia Köndgen, Johnny M. Bertl, "I lieg am Ruckn. Erinnerungen an Ludwig Hirsch", Verlag Ueberreuter

Kostenfreie Podcasts:
Gedanken für den Tag - XML
Gedanken für den Tag - iTunes

Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: Ludwig Hirsch
Textdichter/Textdichterin, Textquelle: Ludwig Hirsch
Bearbeiter/Bearbeiterin: Robert Opratko
Album: Komm großer schwarzer Vogel
Titel: Ich hab's wollen wissen
Solist/Solistin: Ludwig Hirsch /Gesang
Orchester: Orchester
Orchester: Robert Opratko
Länge: 02:00 min
Label: Polydor CD 8331722

weiteren Inhalt einblenden