Gedanken für den Tag

von Brigitte Schwens-Harrant, Feuilletonchefin der Wochenzeitung "Die Furche". "Die Wirklichkeit hat unzählige Formen" - Zum 100. Todestag von Henry James. Gestaltung: Alexandra Mantler

"Zerreißen Sie nicht den Faden!"

Auf den ersten Blick erschließt sich vielleicht nicht, warum man im Jahr 2016 solche Geschichten lesen sollte: Von der amerikanischen Upperclass des 19. Jahrhunderts, deren Vorfahren in der Neuen Welt reich geworden sind und den Enkeln ein Leben ohne Arbeit ermöglicht haben. Oder von der europäischen Upperclass, die von Grundbesitz lebte und über Kunst schwadronierte und darüber, wer wen vielleicht nicht kriegt, weil er sicher nur auf Geld aus ist oder zu wenig hat, um heiraten zu können.

Das sind wohl kaum Themen, die Anfang des 21. Jahrhunderts und angesichts der Umbrüche, die wir heute erleben, brennend interessieren. Vor allem, wenn sie auf den ersten Blick so unpolitisch daherkommen wie bei Henry James. Kaum zu glauben, dass der amerikanische Bürgerkrieg gerade erst vorbei war, als James, der 1843 geboren wurde und 1916 starb, seine Bücher schrieb. Seltsam enthoben scheinen die Probleme, die in seinen Büchern verhandelt werden. Und Probleme werden viel verhandelt, ja viele seiner Werke handeln gerade von diesem Verhandeln, vom Kommunizieren oder Nichtkommunizieren, vom gegenseitigen Belauern, was gemeint ist, obwohl es nicht gesagt wird, was gesagt wird, aber eigentlich gemeint ist, darüber, wie andere Menschen ausgerichtet werden, sei es in Worten, sei es in Gedanken.

Auch wenn die Romane durchaus spannende Einblicke in die Zeit von damals und über das Verhältnis von Amerikanern zu Europäern Auskunft geben, sind es nicht die Liebesgeschichten und Geldangelegenheiten, die interessieren. Seine Themen erzählte Henry James mehr und mehr durch die Gestaltung seiner Romane, dadurch, wie er Nicht-Kommunikation, Meinungen, Gedankenströme in eine Form brachte, an deren Konzeption er lange arbeitete. Leserinnen, die um des Plots willen lesen, werden enttäuscht sein. Henry James ist auch kein Autor für ungeduldige Leser. Allen anderen kann man jenen Rat ans Herz legen, den James an eine seiner Leserinnen richtete: "Lesen Sie fu?nf Seiten am Tage - seien Sie ruhig so sorgfältig -, aber zerreißen Sie nicht den Faden! Der Faden ist wirklich mit fast wissenschaftlicher Präzision gespannt. Gehen Sie Schritt fu?r Schritt an ihm voran - dann wird sich der volle Zauber erschließen!"

Service

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Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: Wojciech Kilar
Vorlage: Henry James
Gesamttitel: THE PORTRAIT OF A LADY / Original Filmmusik / Ausschnitt
Titel: Love remains
Orchester: Filmorchester
Leitung: Stepan Konicek, Nic Raine
Solist/Solistin: Piano
Länge: 02:00 min
Label: London 4550812 (Promo)

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