Gedanken für den Tag

von Brigitte Schwens-Harrant, Feuilletonchefin der Wochenzeitung "Die Furche". "Die Wirklichkeit hat unzählige Formen" - Zum 100. Todestag von Henry James. Gestaltung: Alexandra Mantler

"Alles Leben, alles Fühlen, alle Beobachtung, alle Vision"

"Warum setzt Du Dich nicht, nur um dem Brüderchen einen Gefallen zu tun, einfach hin und schreibst ein neues Buch, ohne Zwielicht oder Muffigkeit in der Struktur, mit großer Kraft und Entschlossenheit in der Handlung, ohne diese Finten und Scharmützel in den Dialogen, ohne psychologische Kommentare und in einem absolut klaren Stil?" Das fragte William James, der berühmte amerikanische Psychologe, seinen jüngeren Bruder Henry, nachdem dessen Roman "Die goldene Schale" erschienen war. William, der Wissenschaftler, war gewohnt "eine Sache in einem Satz so gerade heraus und explizit wie möglich auszudrücken" und wünschte das auch von seinem Bruder, dem Literaten: "Du vermeidest, sie geradewegs zu benennen, sondern raunst und seufzt von allen Seiten um sie herum ..."

Aber Henry James dachte wohl nicht daran, dem Bruder seinen Wunsch nach besserer Lesbarkeit, nach einem klar erkennbaren Plot zu erfüllen - und er arbeitete in dieser Hinsicht seinen Lesern nicht entgegen.

Das wichtigste sei "das Vermögen, Eindrücke direkt aufzunehmen", schrieb er 1884 in seinem polemischen Essay über die Kunst des Romans, in dem er für die Freiheit des Schriftstellers plädierte. "Mir scheint, dass niemand je einen ernsthaften künstlerischen Versuch unternommen haben kann, ohne sich - in einer Art Offenbarung - einer ins Unermessliche wachsenden Freiheit bewusst geworden zu sein. Man wird dann - im Lichte eines himmlischen Strahls - dessen inne, dass das Gebiet der Kunst alles Leben, alles Fühlen, alle Beobachtung, alle Vision ist. ... Das ist eine hinreichende Antwort an jene, die behaupten, dass sie die traurigen Dinge des Lebens nicht berühren dürfe, die in ihren himmlisch unbewussten Busen an Stöckchen befestigte kleine Verbotsschilder stecken, solche, wie wir sie in öffentlichen Parks sehen - "Es ist verboten, den Rasen zu betreten; es ist verboten, die Blumen zu berühren; es ist nicht gestattet, Hunde mitzubringen oder nach Anbruch der Dunkelheit zu bleiben; es wird gebeten, sich rechts zu halten." Verbote wie diese akzeptierte Henry James für seine Literatur nicht.

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Titel: GFT 160226 Gedanken für den Tag / Brigitte Schwens-Harrant
Länge: 03:49 min

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