Zwischenruf

von Gisela Ebmer (Wien)

"Fußball und Religion"

Am Dienstag habe ich von vielen Leuten gehört, dass die Wiener Innenstadt voll ist mit österreichischen Fahnen, Autos waren beflaggt, die Kinder in meiner Schule hatten rot-weiß-rote Schminke auf den Wangen. Vor meinem Wohnzimmer zu Hause gibt es Public Viewing für alle Nachbarn, privat organisiert mit Laptop und Beamer.

Fußball bewegt viele Menschen, die normalerweise gar nichts damit zu tun haben. Aber ist Fußball eine Religion, wie manche behaupten?

Da gibt es zunächst mal Heilige Zeiten: Wann spielen welche Mannschaften? Da muss man sich unbedingt Zeit nehmen. Das Stadion ist wie ein Tempel, in den man nur mit massiver Sicherheitskontrolle überhaupt hineinkommt. Gehen die Flutlichter an, fühlt man sich wie entrückt gegenüber der normalen Welt, für alle Außenstehenden unsichtbar in einer Parallelwelt. Mit eigenem Shoppingcenter, Hotels und Restaurants. In der Mitte befindet sich das Allerheiligste des Tempels, welches nur von eingeweihten Menschen betreten werden darf. Das ist der Rasen. Für das gewöhnliche Volk ist er tabu.

Auch die Spieler trainieren nicht auf diesem Rasen, er ist dem heiligen Spiel vorbehalten. Und dieses Spiel folgt ganz genauen Regeln, wie bei einer religiösen Zeremonie. Jeder Regelverstoß wird streng geahndet. Jedes Spiel beginnt wie eine religiöse Handlung mit einem feierlichen Einzug der handelnden Personen. Die Kleidung der Fans ist nahezu liturgisch angepasst, sie passt zu den Farben der Spieler. Zum Ritual gehören natürlich Gesänge und Musik, bevor es so richtig losgeht. Und alle singen mit, auch jene, die sonst nie singen, weil sie das angeblich nicht können. Fanartikel werden oft wie Reliquien gehandelt, Fußballer sind wie Götter, die man verehrt. Wenn man ein Trikot mit Namen und Nummer eines bekannten Spielers ergattert, dann hat man quasi seine Kräfte in sich selbst aufgenommen.

Eine Reise zur Fußball-Europameisterschaft gleicht einer Wallfahrt. Wie bei einer Prozession ziehen die Reisenden geschmückt und beflaggt gemeinsam zum Stadion oder durch die Stadt. Gefühle werden ernstgenommen, Jubel und Trauer liegen nahe beieinander. Im Stadion und vor dem Fernseher kann man springen vor Freude, jubeln und schreien, oder weinen und klagen. Hier kann man endlich wirklich Mensch sein. Hier spürt man sich selbst und ist ganz lebendig. Man erlebt ein ungeheures Gemeinschaftsgefühl und Zusammengehörigkeit mit anderen. Eingebettet in ein großes Ganzes. Nicht mehr einsam und alleine dem Alltags-Wahnsinn und Leistungsdruck ausgesetzt. Ja, all das könnte man als Religion bezeichnen.

Und doch erinnere ich mich daran, wie der evangelisch-reformierte Theologe Karl Barth in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts angesichts des Hitler-Regimes den Begriff der Religion grundsätzlich in Frage gestellt hat. Er meinte, das Christentum sei bereits die beste Religionskritik überhaupt. Jesus nannte jene Menschen reif für das Reich Gottes, die Hungernde speisen, Nackte kleiden, Gefangene besuchen, Kranken helfen, Flüchtlinge aufnehmen. Religion heißt, dass wir uns auf den Sinn unseres Dasein besinnen. Und in allen Weltreligionen ist der Sinn des Lebens letztlich die Zuwendung zum Nächsten. Und die Nächsten sind alle, die meine Hilfe brauchen.

Daher ist Fußball keine Religion im christlichen Sinn. Es ist ein Spiel, und Spiele sind gut und sollen genossen werden. Man kann sich verkleiden, sich Regeln ausmachen, man kann singen, jubeln und trauern, man kann sich eingebettet fühlen in eine große Gemeinschaft.

Und wenn man auch ein religiöser Mensch ist, dann besinnt man sich als Jude, Christ, Moslem oder Buddhist auf den Sinn des Lebens, der sich im Dasein für andere ausdrückt.

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