Radiokolleg - In finsteren Zeiten

Intellektuelle im Exil (2). Gestaltung: Nikolaus Halmer

Für Intellektuelle bedeutet das Exil einen existenziellen Einschnitt. Die Verbannung, die meist aus politischen Gründen erfolgt, schafft eine kaum zu überbrückende Distanz zum bisherigen Leben und zur schriftstellerischen Tätigkeit. Verloren geht dabei die Eingebundenheit in einen vertrauten kulturellen Kontext, der für die Arbeit der Intellektuellen wesentlich ist. Dazu kommt noch die ökonomisch prekäre Situation, die durch den Wegfall des Zielpublikums im Heimatland entsteht. Den Intellektuellen wird buchstäblich der Boden unter den Füßen weggezogen, wie der russische Dichter Ossip Mandelstam schrieb: "Wir Lebenden spüren den Boden nicht mehr. Wir reden, dass uns auf zehn Schritte keiner hört."

Im Mittelpunkt des "Radiokollegs" stehen jüdische Intellektuelle wie Jean Améry, Carl Einstein, Nelly Sachs oder Else Lasker-Schüler, die wegen des nationalsozialistischen Terrors gezwungen waren, unterschiedliche Orte des Exils aufzusuchen. Sie reagierten unterschiedlich - je nach psychischer Disposition - auf die Herausforderungen, denen sie sich im Exil stellen mussten. Gemeinsam war ihnen die psychische Traumatisierung durch die Gräueltaten der Nationalsozialisten, die zu schweren Depressionen, Aufenthalten in psychiatrischen Kliniken oder zum Selbstmord führten, wie dies bei der Schriftstellerin Nelly Sachs oder dem Kulturtheoretiker Jean Améry der Fall war. Andere Intellektuelle wählten die Form des aktiven Widerstands gegen den Faschismus und Nationalsozialismus. So schloss sich der Schriftsteller und Kunsthistoriker Carl Einstein den anarchistischen Brigaden von Buenaventura Durruti an, um die spanischen Faschisten zu bekämpfen.

Die Emigration von Intellektuellen wurde jedoch nicht immer durch politische Repression von außen erzwungen. Es gibt auch eine Form der Emigration, die damit zu tun hat, dass das heimatliche Umfeld als unerträgliche geistige Enge und als kulturelle Wüste erlebt wurde. Das war bei dem aus Österreich stammenden jüdischen Philosophen André Gorz der Fall. Er emigrierte nach Frankreich, wo er in der französischen Kultur, speziell im Existenzialismus von Jean-Paul Sartre, eine neue Heimat fand. Eine Emigration, die aus ähnlichen Gründen erfolgte, nahm der deutsche Literaturwissenschafter Hans Ulrich Gumbrecht vor. Der international renommierte Romanist entschloss sich, in die Vereinigten Staaten von Amerika zu emigrieren, weil ihm die deutsche Gelehrtenwelt zu engstirnig und dogmatisch war.

Service

Jean Améry: Jenseits von Schuld und Sühne, Klett-Cotta Verlag
Jean Améry: Unmeisterliche Wanderjahre, Klett-Cotta Verlag
Irene Heidelberger-Leonard: Jean Améry: Revolte in der Resignation. Biographie, Klett-Cotta Verlag
Nelly Sachs: Kommentierte Ausgabe in 4 Bänden, Suhrkamp Verlag
Aris Fioretos: Flucht und Verwandlung: Nelly Sachs, Schriftstellerin, Berlin/Stockholm. Ein Katalogbuch, Suhrkamp Verlag, antiquarisch erhältlich
Carl Einstein: Bebuquin, Reclam Verlag
Uwe Fleckner: Carl Einstein und sein Jahrhundert, Fragmente einer intellektuellen Biographie, Akademie Verlag
Marina Zwetajewa: Liebesgedichte, ausgewählt und mit einem Nachwort von Ilma Rakusa, Suhrkamp Verlag
Marina Zwetajewa: Mutter und die Musik. Autobiographische Schriften, übersetzt von Ilma Rakusa, Suhrkamp Verlag
Marina Zwetajewa: Im Feuer geschrieben. Ein Leben in Briefen, übersetzt von Ilma Rakusa,
suhrkamp taschenbuch, Band 2 584
André Gorz: Der Verräter. Vorwort von Jean-Paul Sartre, edition suhrkamp, Band 988
Hans Ulrich Gumbrecht: California Graffiti. Bilder vom westlichen Ende der Welt. Hanser Verlag
Else Lasker-Schüler: Mein Herz, Bibliothek Suhrkamp, Band 520
Else Lasker-Schüler: Die Bilder. Ausstellungskatalog. Herausgegeben von Ricarda Dick, Suhrkamp Verlag
Sigrid Rauschinger: Else Lasker-Schüler. Biografie, Wallstein Verlag

Sendereihe