Gedanken für den Tag

von Brigitte Schwens-Harrant, Theologin, Germanistin und Feuilletonchefin der Wochenzeitung "die Furche". "Anders sehen". Gestaltung: Alexandra Mantler

Verrückter Leser?

"Schließlich versenkte er sich so tief in seine Bücher, daß ihm die Nächte vom Zwielicht bis zum Zwielicht und die Tage von der Dämmerung bis zur Dämmerung über dem Lesen hingingen", so wird in Miguel de Cervantes' Roman der leidenschaftliche Leser Don Quijote beschrieben. "Die Phantasie füllte sich ihm mit allem an, was er in den Büchern las, so mit Verzauberungen wie mit Kämpfen, Waffengängen, Herausforderungen, Wunden, süßem Gekose, Liebschaften, Seestürmen und unmöglichen Narreteien. Und so fest setzte es sich ihm in den Kopf, jener Wust hirnverrückter Erdichtungen, die er las, sei volle Wahrheit, daß es für ihn keine zweifellosere Geschichte auf Erden gab."

Cervantes, der vor 400 Jahren gestorben ist, hat mit seinem Roman "Don Quijote" einen der berühmtesten Leser der Literaturgeschichte geschaffen. Und thematisierte die Auffassung, dass das Lesen unterhaltsamer Literatur gefährlich sein könne. Durch den Buchdruck waren individuelle Lektüren prinzipiell möglich geworden. Nun war nicht mehr kontrollierbar, wer was wann wieviel las. Selbst 200 Jahre nach Don Quijote kann man noch in einem Buch "Über die Pest der deutschen Literatur" lesen, die gefährliche "Romanleserey" führe zu pathologischen Symptomen, die an jene der Drogensucht erinnerten: Die Leser lebten nicht mehr in der wirklichen Welt, sie seien "in den höchsten Träumen der Einbildung ihren Mitmenschen entrissen".

Die möglichen Folgen durch zu viel Lesen plagten auch die spanischen Zensoren. Und Don Quijotes Freunde. In Cervantes' Roman tun sich daher der Pfarrer, der Barbier und die Haushälterin zusammen. Sie sichten, diskutieren und beurteilen Don Quijotes Bibliothek. Unter den vielen Büchern findet sich sogar eines von Cervantes. So selbstironisch zwinkert der Autor den spanischen Zensoren zu.

Die Freunde beschließen, den Ritter, der keiner ist, zu retten, indem sie seine Bücher verbrennen. Das ist alarmierend. Zum Glück bleibt diese Bücherverbrennung folgenlos, es hilft auch nichts, die Bibliothek zuzumauern, denn Don Quijote hat die Lektüren, wie das bei leidenschaftlichen Lesern so ist, längst in seinem Kopf. Und kann mit ihnen und Sancho Panza aufbrechen, den Windmühlen entgegen, die seit Don Quijote nicht mehr einfach nur Windmühlen sind.

Service

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Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Titel: GFT 160705 Gedanken für den Tag / Schwens-Harrant
Länge: 03:49 min

Komponist/Komponistin: Francisco Guerau/1649 - 1722
Urheber/Urheberin: Francesc Garau /siehe Guerau, Francisco/1649 - 1722
Album: Die Gitarre in Spanien
Titel: Canario für Gitarre - aus "Poema harmonico"
Solist/Solistin: Julian Bream /Gitarre
Länge: 02:00 min
Label: RCA RD 854172

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