Gedanken für den Tag

von Brigitte Schwens-Harrant, Theologin, Germanistin und Feuilletonchefin der Wochenzeitung "die Furche". "Anders sehen". Gestaltung: Alexandra Mantler

"Wo alles problematisch geworden ist"

Wäre Cervantes' "Don Quijote" nur eine Satire auf die zeitgenössische Ritterliteratur und die Auswirkung von Lektüren auf die Gehirne von Lesern, hätte der Roman wohl nicht so eine enorme Wirkungsgeschichte erfahren. Der vor über 400 Jahren geschriebene Roman signalisiert den Beginn der Neuzeit, thematisiert die Verunsicherung der Gewissheit darüber, was Wirklichkeit ist, wie sich in einer pluralen Gesellschaft Wahrheit finden lässt, und er signalisiert dies mit geradezu modernen formalen Mitteln.

Das fällt schon beim Vorwort auf, in dem Cervantes bzw. der Erzähler dem Leser das Recht zuspricht, mit dem Text machen zu können, was er will, und in dem er auch vorführt, wie Quellenzitate erfunden werden können. Tradition wird hier aufgegriffen, um zugleich demontiert zu werden. Vieles lässt Cervantes spielerisch im Ungewissen: Autor, Namen, Örtlichkeiten. Er tritt - wie später Hitchcock in seinen Filmen - selbst als Figur in seiner Geschichte auf, etwa als geheimnisvoller Reisender, der seine Manuskripte im Wirtshaus vergisst.

"Ich lese einen Roman, ich lese eine wahre Geschichte, ich lese die Übersetzung einer wahren Geschichte, ich lese eine korrigierte Tatsachendarstellung", so beschrieb Alberto Manguel in seiner "Geschichte des Lesens" Cervantes' raffiniertes Spiel mit dem Leser. Es geht dabei aber nicht darum, die Leser an der Nase herumzuführen, sondern erzählt die Verunsicherung über eine angeblich mit Sicherheit gewusste Wirklichkeit und zieht die Leser mitten in diese Verunsicherung hinein. Auch die vermeintlich scharf gezeichnete Polarität - hier Don Quijote und da Sancho Panza im Sinn von: hier Träumer, da Realitätssinn -, verschiebt sich im Lauf der beiden Bände. So wie sich viele andere Gewissheiten auch verschieben.

"Don Quijote glaubt, er reise, um die Einheit von Mensch und Glaube, der seine Gewissheit ist, wiederherzustellen; in Wirklichkeit reist er, um sich in einer neuen Umgebung wieder zu finden, wo alles problematisch geworden ist, angefangen von dem Roman, den Don Quijote lebt." Besser als Carlos Fuentes kann man den Aufbruch des Don Quijote kaum kurz beschreiben. Und damit ist auch benannt, was diesen über 400 Jahre alten Roman, der nur vordergründig zu Rittern und Zauberern führt, so gegenwärtig macht.

Service

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Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: Francisco Tarrega/1852 - 1909
Album: Die Gitarre in Spanien
Titel: Recuerdos de la Alhambra - für Gitarre
Solist/Solistin: Julian Bream /Gitarre
Länge: 02:00 min
Label: RCA RD 854172

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