Gedanken für den Tag

15. Juli 2016, 06:56

Auch in jener Großstadt, in der ich auf die Welt kam, würdigen Straßenbezeichnungen mehr oder weniger herausragende Persönlichkeiten, sie verweisen auf Flurnamen, einst in der Gegend ansässige Berufsgruppen, wichtige Institutionen und dergleichen mehr. Erst im zwanzigsten Jahrhundert gaben es die Verantwortlichen billiger und benannten gleich einen ganzen Stadtteil nach Vögeln und einen anderen nach Bäumen.

Das ist zwar weder phantasievoll noch sonderlich praktisch, denn Ortsunkundige verlieren schnell den Überblick, ob die Buchengasse hinter oder vor der Erlenzeile von der Eichenstraße abzweigt. Aber jeder kann sich unter einer Birke und einer Amsel etwas vorstellen.

Selbst die Muldenstraße zeichnet sich immerhin durch ihre Lage in einer Geländevertiefung aus. Einzig der Quergasse bleibt es vorbehalten, aus sich heraus nichts, aber auch gar nichts zu bedeuten. Quer liegt sie nämlich nur in Bezug auf andere, dominante Straßenzüge, die Lederergasse nämlich und die Museumstraße, in die sie jeweils mündet. Kaum vierzig Meter lang, könnte sie genauso gut Kurzgasse heißen, denn eine andere solche findet sich nicht im Straßenverzeichnis, doch dann wäre sie ihr Alleinstellungsmerkmal los, denn kurz ist sie tatsächlich aus Eigenem.

Der neunmalkluge Zwölfjährige hätte sie deshalb gern eigenhändig in Kurzgasse umgetauft, weil er die Erwachsenen wieder einmal bei einem Fehler ertappt zu haben glaubte. Zehn Jahre später war ihm quer zu liegen ein Wert an sich geworden, und er widmete die kurze Quergasse in Gedanken den Querdenkern der Stadtgeschichte. Ein Vierteljahrhundert dauerte es jetzt, bis er bei einem Besuch in der Stadt von früher wieder an ihr vorbeikam. Amüsiert schüttelte er den Kopf und stellte fest, sie hatte immer noch seine Sympathien, gerade weil sie bescheiden aus sich heraus nichts bedeutete.

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Sendereihe

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Gestaltung

• Alexandra Mantler