Radiokolleg - Alles ist erlaubt

Postjazz - Neue Klänge aus England (3).
Gestaltung: Thomas Mießgang

Seit rund zehn Jahren tut sich etwas im improvisatorischen Unterholz Großbritanniens. Eine junge Garde von Improvisator/innen, die überwiegend in stabilen Gruppenzusammenhängen auftreten, macht unter dem Label Postjazz von sich reden. Zu den bedeutendsten Vertreter/innen dieses Subgenres zählen das Quintett Polar Bear, das perkussionslastige Ensemble Sons of Kemet, die Sängerin Lauren Kinsella mit der Gruppe Snowpoet und der versatile Pianist und Hammondorgelspieler Alexander Hawkins, der in einer Vielzahl von Settings auftritt.

Postjazz meint, so wie viele andere kulturelle und zivilisatorische Manifestationen, die mit diesem Präfix ausgestattet sind - Postmoderne, Poststrukturalismus, Posthistoire - einen Jazz nach dem Jazz. Nicht unbedingt als Farce, die sich ironisch an die innovativen Durchbruchsleistungen der Geschichte anschließt, jedoch als einen Klangdialekt, der im Bewusstsein, dass es nichts Neues unter der Sonne gibt, legitime künstlerische Ausdrucksweisen der Gegenwart in der hybriden Zusammenschau und Verwirbelung einstmals getrennter Stile und Genres entwickelt.

Der Pianist Uwe Oberg, der unter dem Titel "Work" vor kurzem eine Platte mit Improvisationen über Kompositionen von Monk, John Coltrane, Ornette Coleman und Robert Wyatt herausgebracht hat, schrieb zu diesem Projekt: "Ich liebe Interfaces, den Übergang von einer Ästhetik zur anderen. Wenn ich traditionelle Stücke spiele, fühlt sich das an wie ein Fließen durch die Zeit und durch die Geschichte - und gleichzeitig werden die Valeurs des Materials für die Gegenwart auf den Prüfstand gestellt."

Diese Aussage könnte ohne große gedankliche Verrenkungen auch als Manifest für den Postjazz adaptiert werden. Es geht darum, die in der spontanen klanglichen Entladung freigesetzten Kräfte, die Gefahr laufen, im Ungefähren zu verpuffen, durch strukturierende Elemente - seien es nun klassische Partituren, Handlungsanweisungen Computerprogramme oder Songformate - zu fokussieren und den aus dem Unterbewusstsein geschöpften Soundideen eine künstlerische Perspektive zu verleihen.

Der Begriff Postjazz definiert keinen klar definierten Stil, sondern eine Haltung. Eine Attitüde, die nicht (mehr) an Tabula Rasa interessiert ist, sondern am Anknüpfen an zu früh aufgegebene Traditionen oder am Zusammenfügen von Dingen, die eigentlich nicht zusammengehören, um damit Überraschungseffekte zu erzielen.

Vielleicht trifft es der von der Situationistischen Internationale geprägte Begriff Détournement am besten: Die Wiederverwendung und subtile Variation eines traditionellen Werkes oder etablierten Stiles mit der Absicht, seine ursprüngliche Bedeutung subversiv zu unterminieren und dadurch Aspekte seiner Klanggestalt zum Leuchten zu bringen, die man vorher gar nicht wahrgenommen hat. Motto: "Nichts ist wahr, alles ist erlaubt."

Sendereihe

Gestaltung

  • Thomas Mießgang