Gedanken für den Tag
von Wolfgang Müller-Funk, Kulturphilosoph und Essayist. "Dialog: Über das Reden mit Anderen und Anderem". Gestaltung: Alexandra Mantler
10. August 2016, 06:56
"Je est un autre. Ich ist ein anderer", schreibt der französische Symbolist Arthur Rimbaud an seinen Freund Paul Demeny am 15. Mai 1871. Dieser Ausspruch ist zum Schlüsselsatz des heutigen Denkens über Dialog und Andersheit geworden. Er bringt einen paradoxen Sachverhalt auf den Punkt. Denn zunächst einmal schließen sich beide Begriffe, Ich und Anderer, eigentlich aus. Der andere, weiblich oder männlich, ist ja gerade dadurch bestimmt, dass er ein Gegenüber ist, das nicht so ist wie ich. Und umgekehrt ist das Ich dadurch charakterisiert, dass es alles ausschließt, was nicht Ich ist, das Du, das Er, das Sie, das Es. Der paradoxe Satz kehrt die Verhältnisse zwischen Eigenem und Fremden radikal um. Was mir selbstverständlich scheint, das begegnet mir nun als Fremdes und anderes.
Der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan hat die Andersheit des Ich am Beispiel einer frühkindlichen Grundsituation beschrieben und analysiert. Er nennt sie das Spiegelstadium: Im Spiegel und nur in ihm sehen wir uns selbst als fremdes, rätselhaftes Wesen, das uns seitenverkehrt anschaut, ein imaginärer anderer Mensch auf einer Projektionsfläche.
Im Gegensatz zur handfesten Behauptung, Ich zu sein, finden wir uns also in einer gespaltenen Situation wieder. Wir sind nicht Herr und Frau im eigenen Hause. Mit dieser Situation auszukommen, sie zu gestalten, bildet den lebensphilosophischen und ethischen Kern der Psychoanalyse.
Das Dialogische hat zentral mit dieser gespaltenen Situation des Menschen zu tun. Wie wir die Beziehung zu uns gestalten, entscheidet auch darüber, wie wir mit anderen Menschen umgehen. Dabei spielt jenes andere, das Freud als das Unbewusste beschrieben hat, eine maßgebliche Rolle. Der Dialog mit uns selbst und jener mit anderen bilden zwei Momente ein und des gleichen Zusammenhangs. Dialog gibt es in einem bestimmten Sinn nur, weil es Andersheit gibt und weil sich das Fremde nicht auflöst. "Fremde sind wir uns selbst", lautet der Titel eines Buches der französischen Psychoanalytikerin Julia Kristeva. Wer mit der eigenen Fremdheit umzugehen lernt, der wird auch einen selbstbewussten Umgang mit dem Fremden, das ihm in seinem Leben begegnet, pflegen.
Service
Wolfgang Müller-Funk, "Theorien des Fremden. Eine Einführung", UTB Verlag
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Sendereihe
Gestaltung
Playlist
Titel: GFT 160810 Gedanken für den Tag / Wolfgang Müller-Funk
Länge: 03:49 min
Komponist/Komponistin: Sergej Rachmaninoff/1873 - 1943
Gesamttitel: 7 Preludes aus op.32 von Sergej Rachmaninoff
Titel: Prelude Nr.9 op.32 in A-Dur für Klavier - Allegro moderato
Solist/Solistin: Svjatoslav Richter /Klavier
Länge: 02:00 min
Label: JVC VDC 1026