Gedanken für den Tag

von Cornelius Hell, Literaturkritiker und Übersetzer. "Unterbrochene Schulstunde". Gestaltung: Alexandra Mantler

Voriges Jahr saß ich in Salzburg im Obus und fuhr zum Friedhof, um das Grab meiner Mutter zu besuchen. Da hörte ich hinter mir einen älteren Herrn zwei kleinen Mädchen geduldig erklären, dass sie sich während der Fahrt unbedingt festhalten müssten, denn der Fahrer könne ja plötzlich bremsen. Die Stimme kam mir bekannt vor, und auf einmal war ich sicher: Es war der Englischlehrer meines Gymnasiums - vermutlich mit seinen Enkelinnen unterwegs. In der Art, wie er mit ihnen sprach, war sofort wieder die gute Atmosphäre unserer Englischstunden präsent - eine Atmosphäre, die damals und an dieser Schule alles andere als selbstverständlich war. Der Englischlehrer gab es nicht billig, und vor allem ging es ihm darum, dass wir wirklich Englisch sprechen lernten. Trotz dieser Anforderungen erreichten immer alle das Klassenziel, und es gab keinen Terror und keine Schikanen.

Der Englischlehrer beeindruckte mich aber noch durch etwas anderes. Ich empfand die dunklen Anzüge der Priester-Professoren, die es zu meiner Zeit am Borromäum in Salzburg noch zur Genüge gab, als bedrückend. Der Englischlehrer aber trug immer helle Anzüge und farbenfrohe Krawatten. Jaja, das waren noch Zeiten: Etliche Lehrer trugen in den 1960er Jahren tatsächlich Krawatten in der Klasse. Und wenn ich von Lehrern spreche, so nicht deshalb, weil ich darauf vergesse, gendergerecht zu formulieren - es gab damals einfach keine Mädchen oder Frauen an unserer Schule. Wir waren ein schrecklicher katholischer Männerverein. Und darin stach der Englischlehrer mit den Farben seiner Kleidung hervor. Bei meinen ersten Versuchen, meine Kleidung selbst auszusuchen, habe ich mich an ihm orientiert.

Vor allem aber habe ich von ihm gelernt, dass die Leute viel Zeit haben, einen anzuschauen, wenn man auf irgendeiner Bühne steht. Und dass die Kleidung daher sehr wichtig ist. Dass man mit ihr Botschaften sendet und eine Atmosphäre erzeugt; und sich selbst inszenieren kann. Aber die Kleidung allein macht es natürlich nicht - der Blick und der Tonfall müssen damit übereinstimmen. Wie einst in den Englischstunden oder eben vergangenes Jahr im Obus. Ich musste leider aussteigen bevor ich meinen ehemaligen Lehrer hätte ansprechen können. Aber ich weiß, was ich von ihm gelernt habe.

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Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: Bela Bartok/1881 - 1945
Gesamttitel: Gyermekeknek Sz 42 für Klavier, Heft 1 - 4
Anderssprachiger Titel: Für Kinder
Titel: Für Kinder, Heft 1 Nr.16 - 17
* Nr.16 Regi magyar dallam
Solist/Solistin: Zoltan Kocsis /Klavier
Länge: 02:00 min
Label: Hungaroton HCD 123042

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