Zwischenruf

von Prof. Susanne Heine (Wien)

Wie man liebenswert wird - Zum Beginn des Reformationsjubiläums

Mit dem Advent hat das neue Kirchenjahr begonnen und damit das Gedenken an 500 Jahre Reformation. Im Jahr 1517 hatte Martin Luther seine 95 Thesen veröffentlicht und damit zur Diskussion aufgerufen. Er wollte die Kirche erneuern, nicht spalten, und als er ahnte, dass eine Spaltung herauskommen würde, war es zu spät. Denn inzwischen hatte die Reformation zu viele Anhänger gefunden, die man nicht mehr aus der Welt schaffen konnte.

Luther hatte offenbar einen Nerv getroffen. Das bezog sich nicht nur auf die Kritik am Geschäft mit dem Ablasshandel, sondern ging tiefer. Dahinter stand nicht nur die damalige Angst der Menschen, in Fegefeuer und Hölle zu schmoren, sondern es ging um einen realistischen und schonungslosen Blick auf den Menschen: Kein Mensch kann sich einbilden, unschuldig durchs Leben zu kommen. Kein Mensch kann von sich sagen, stets gerecht, gütig und liebenswert zu sein und ohne Neid, Hass und Überheblichkeit. Es ist nicht leicht, sich das einzugestehen, und weil das nicht leicht ist, wird verleugnet, was nicht ins geschönte Bild passt.

Martin Luther war nicht der erste und einzige, der die Selbstgerechtigkeit durchschaut hat. Das Lukasevangelium erzählt das Gleichnis von einem Mann, der Gott dafür dankt, nicht wie die anderen Menschen zu sein, nicht wie Räuber, Betrüger und Ehebrecher. Das klingt harmlos. Warum soll er nicht dankbar sein? Aber das ist nicht harmlos, weil daraus die unbarmherzige Verachtung anderer Menschen folgt, die keine "Normalbiografie" vorweisen können, unter die Räder gekommen sind, oder einfach anders sind als andere. Eine solche Verachtung, die bis zur Ausmerzung Andersdenkender führen kann, wird gerne durch dienende Demut kaschiert. Aber niemand soll das Wort Demut in den Mund nehmen und sich demütig geben, denn damit wird nur der allergrößte Hochmut verschleiert; so schreibt Luther 1521in seiner Auslegung des Magnifikats, des Liedes der Maria.

Sicher, jeder Mensch will gut angesehen und als liebenswert geachtet sein und neigt dazu, seine Schattenseiten auszublenden. Wer das nicht tut, muss gewärtigen, übersehen zu werden. Oder er fällt der öffentlichen Häme zum Opfer in einer Gesellschaft, in der Menschen nichts Besseres zu tun haben, als übereinander Gericht zu halten.

Bei meiner Luther-Lektüre hat mir am meisten eingeleuchtet, was Luther in seiner Heidelberger Disputation von 1518 über die Liebe des Menschen sagt: "Die Liebe des Menschen entsteht an dem, was sie liebenswert findet." Aber was, wenn die Menschen nicht liebenswert sind? Seine Antwort: "Die Liebe Gottes findet nicht vor, sondern erschafft sich, was sie liebt": Die schuldverstrickten Menschen werden nicht geliebt, weil sie ,schön' sind, sondern weil sie geliebt sind, werden sie ,schön'. Dann aber werden ihnen auch ihre Verfehlungen schmerzlich bewusst, und sie können es in Zukunft besser machen.

Ein alter Text, aber nicht veraltet. Auch wenn man Gott aus dem Spiel lässt: Die Liebe macht schön. Aber welche menschliche Liebe, die ja nur lieben kann, was sie liebenswert findet, bringt das zustande? Menschen sind geneigt, sagt Luther, nur auf das zu schauen, was etwas darstellt und als "das Gute" daherkommt. Daher lassen sie sich vom Schein blenden. Aber wer sich, unabhängig von menschlicher Liebe, geliebt weiß, kann das Gute ohne großes Tamtam den Armen und Bedürftigen austeilen und sich allen zuwenden, die Hilfe benötigen. Denn die wahrhaft Demütigen haben das Geringe im Auge. Das ist mit dem dürren Wort "Rechtfertigungslehre" gemeint.

Martin Luther war kein Held, schon gar kein Heiliger, sondern ein fehlbarer Mensch. Er hat Entscheidendes erkannt, anderes versäumt. Er ist damals gängigen Vorurteilen gefolgt und hat doch eine innere Wandlung erfahren. Und er hat erlebt und gewusst, dass Glaube ohne Anfechtungen recht schnell einschläft, weil echter, authentischer Glaube nicht ohne Zweifel zu haben ist.

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