Zwischenruf

Michael Bünker über den Evangelischen Kirchentag 2017

"Du siehst mich". Die Anerkennung des Menschen durch Gott war schon der Reformation ein ganz besonderes Anliegen und ist auch das Motto des Evangelischen Kirchentages im Reformationsjahr 2017, von dem Michael Bünker, evangelisch-lutherischer Bischof in Österreich erzählt. - Gestaltung: Martin Gross

Jetzt werden wohl alle schon munter und auf den Beinen sein, die die letzte Nacht in Wittenberg unter freiem Himmel auf der Gottesdienstwiese verbracht haben. Ab 4.30 Uhr wurden sie "mit leisen Tönen", wie es heißt, geweckt und stimmen sich jetzt ein auf den großen Festgottesdienst, der um 12.00 Uhr dort gefeiert wird. Das ist der Abschluss des diesjährigen Evangelischen Kirchentages, der in Berlin und einigen anderen Städten, eben auch in Wittenberg, stattgefunden hat. Mit dem abschließenden Festgottesdienst auf den Wiesen vor Wittenberg wird auch sichtbar gemacht, dass dieser Kirchentag ein wichtiger Schritt im Jahr des Reformationsjubiläums 2017 war.

Wie immer stand der Kirchentag unter einem biblischen Motto. Es lautete: "Du siehst mich" und stammt aus dem 16. Kapitel des Buches Genesis in der Bibel. Dort wird von Hagar erzählt, der ägyptischen Sklavin im Haushalt von Abraham und Sara. Hagar ist schwanger, sie erwartet ein Kind von Abraham, der mit seiner Frau Sara noch immer kinderlos geblieben ist. Aber sie zieht sich die Feindschaft ihrer Herrin Sara zu und flieht in die Wüste. Sie hat den sicheren Tod vor Augen. Da begegnet ihr an einem Brunnen ein Engel, der sich erkundigt: "Wo kommst du her? Wo willst du hin?" Hagar kann nur berichten, wo sie herkommt. Sie nennt die Fluchtursachen. Wo sie hin will, weiß sie allerdings nicht zu sagen. Sie kann es nicht. Ihre Zukunft ist völlig im Dunkel.

Damit geht es ihr wie vielen, die auf der Flucht sind. Sie sitzen irgendwo fest, auf einer griechischen Insel oder in einem Aufnahmelager, und wissen nicht, wie es mit ihnen weitergehen wird. Warum sie aufgebrochen sind und die oft riskante Fahrt auf sich genommen haben, das können sie erzählen. Aber die Zukunft?

Da sagt der Engel zu Hagar: "Geh zurück zu Sara und Abraham, du wirst einen Sohn bekommen und sollst ihm den Namen Ismael geben". Plötzlich hat Hagar Zukunft! Das noch ungeborene Kind erhält einen Namen und damit ein Lebensrecht. Sie reagiert darauf, indem sie selbst einen Namen vergibt: El-Roi, du bist ein Gott, der mich sieht, du siehst mich.
Ganz ähnlich geht es der jungen Maria, der auch ein Engel ankündigt, dass sie schwanger werden wird und einen Sohn zur Welt bringen soll, dem sie den Namen Jesus geben soll. Sie reagiert wie Hagar: Gott hat mich angesehen - so heißt es im Magnifikat.

Dass Gott sich ausgerechnet denen zuwendet und die sieht, die um ihre Zukunft Angst haben müssen, zieht sich durch die Bibel wie ein roter Faden. Die im Schatten stehen, treten ans Licht und die an den Rand gedrängt sind, kommen plötzlich in der Mitte zu stehen. Immer wieder sind es schwangere Frauen, denen diese Zuwendung geschenkt wird. Ihr Leib ist der Ort der größten Verwundbarkeit und der drängendsten Zukunftssorge. Sie stehen stellvertretend für alle Verwundbaren.

Dieser rote Faden in der Bibel ist für die Kirchen ein Auftrag. Sie wenden sich in der Diakonie den Verwundbaren zu und stellen die in die Mitte, die sonst an den Rand gedrängt würden. Sie treten für die ein, deren Rechte eingeengt und beschnitten werden. Aus diesem Grund hat die Evangelische Kirche auch ihre Bedenken gegenüber dem neuen Asyl- und Fremdenrecht in Österreich geäußert. Keine andere Gruppe unserer Gesellschaft ist von derart massiven Einschränkungen ihrer Grund- und Menschenrechte betroffen wie Asylwerberinnen und Asylwerber.

Du siehst mich - das Motto des Kirchentages ist eine Mut machende Botschaft und Erfahrung in einer Welt, in der immer wieder Menschen übersehen werden. Menschen als Menschen wahrzunehmen, ihnen von Auge zu Auge, von Angesicht zu Angesicht zu begegnen, darauf haben alle ein Anrecht. Dieses besondere Ansehen, dieses Angesehen-Sein macht die besondere Würde des Menschen, aller Menschen, aus.

Das war der Reformation ein ganz besonderes Anliegen: Die Anerkennung des Menschen durch Gott, die allein aus Gnade geschenkt wird und allein durch den Glauben ergriffen werden kann. Wenn die Regelungen unseres Zusammenlebens von diesem Geist erfüllt sind, wird etwas vom Erbe der Reformation lebendig. Das wird heute auf den Wiesen vor Wittenberg gefeiert werden.

Sendereihe

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