Gedanken für den Tag

Reinhard Deutsch über Leo Perutz

"Im Reich der unermesslichen Zahlen, Zeichen und wirkenden Kräfte" - Zum 60. Todestag des Dichters Leo Perutz macht sich der Verleger Reinhard Deutsch Gedanken über den Erzähler von Geschichten zwischen Wirklichkeit und Mystik. - Gestaltung: Alexandra Mantler

Leo Perutz griff auch modische Strömungen auf. Kurz nach dem Nobelpreis für den indischen Dichter Rabindranath Tagore (1913) schrieb er - in Zusammenarbeit mit Paul Frank - einen höchst erfolgreichen Roman: Indische Mystik hält Einzug im "Mangobaumwunder", die unstillbare Sehnsucht nach der ewigen Jugend, die schmale Gratwanderung zwischen Glaube und Wundergläubigkeit, angesiedelt in einem Garten mit unheimlichen und schauderhaften Schlinggewächsen mitten in Wien. Plötzliche Alterungsprozesse, Yogi-Tricks oder die Kraft des Glaubens? Das Eindringen in die Zusammenhänge von Makrokosmos und Mikrokosmos führt zu einer Magie von Farben und Reflexen, in der die Gesetze der gelernten Wirklichkeit nicht mehr gelten.

Ein Arzt, zu einem Notfall gerufen, kommt zu einem alten Mann, der behauptet ein bekannter Alpinist zu sein, und erst allmählich wird klar, dass hier außereuropäisches Wissen im Spiel ist - in dem Fall ein tödlich-schicksalhaftes Spiel. Der indische Lakai ist ein geflohener Tempeldiener, der bei dem scheinbar alten Mann als Gärtner Unterschlupf gefunden hat. Doch dann geriet ein Experiment aus den Fugen:

"Du hast mit dem Fuchs dasselbe gemacht wie damals in Agra mit der Orchidee?" "Ja, Sahib, ich hab ihn alt gemacht über Nacht." "Wie?" "Durch die Positur der Lotosblume, und durch den Verzicht des Atems, welcher die Reinigung meines Körpers bewirkt. Unsere Weisen nennen das: die Padmasana. Wille ist der Dünger, Entsagung der Regen, Versenkung die Sonne", sagte Ulam Singh.

Nach einem Schlangenbiss während des Experiments liegt der Inder im Koma, und seine Gabe, alles schnell zur Reife zu bringen, hat auf die mit ihm verbundenen Menschen verheerende Auswirkungen - sie altern in Stunden um Jahrzehnte. Nur ein Serum, das ihn kurz zum Erwachen bringen, dann aber seinen sicheren Tod bedeuten würde, kann die Entwicklung stoppen.

Der Magier Leo Perutz jongliert hier nicht nur mit den indischen Versatzstücken, sondern auch mit seinem Publikum - einem Lesepublikum, das überschwemmt wurde mit fernöstlicher Heilserwartung wie mit anthroposophischem und theosophischem Schrifttum, das also auf der Suche war nach neuen Göttern und Ersatzreligionen. Mit dem "Mangobaumwunder" ist Perutz eine Schilderung spiritueller Defizite gelungen, die uns Heutigen in den Ohren klingen mag.

Service

Leo Perutz, Paul Frank, "Das Mangobaumwunder. Eine unglaubwürdige Geschichte", Verlag Albert Langen, antiquarisch erhältlich
Hans-Harald Müller, "Leo Perutz. Biographie", Verlag Paul Zsolnay

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Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: Johannes Brahms/1833-1897
Gesamttitel: WELLER QUARTET: DECCA RECORDINGS 1964-1970 (AUSWAHL A.D. 8-CD-BOX)
* Romanze: Poco Adagio - 2.Satz (00:06:50)
Titel: Quartett für Streicher Nr.1 in c-moll op.51 Nr.1
Streichquartett
Ausführende: Weller Quartett
Ausführender/Ausführende: Walter Weller /Violine
Ausführender/Ausführende: Alfred Staar /Violine
Ausführender/Ausführende: Helmut Weis /Viola
Ausführender/Ausführende: Ludwig Beinl /Violoncello
Länge: 02:00 min
Label: Decca/Universal 4756796

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