Zwischenruf

Michael Chalupka über den Wahltag

"Jonas Waltag". Michael Chalupka, Direktor der Diakonie, über Demokratie und Wahlen. - Gestaltung: Martin Gross

Der Anzug liegt bereit, daneben die Krawatte, die Schuhe sind geputzt. Da bin ich altmodisch. Ich sehe das wie unser Bundespräsident: "Dieser Tag", der Wahltag nämlich, ist einer der höchsten Feiertage, den eine Demokratie zu bieten hat", hat Alexander van der Bellen gemeint - und das Wahlrecht sei "keine Selbstverständlichkeit". Denn "in vielen Ländern dieser Welt" gäbe es diese Möglichkeit nicht.

Doch bevor ich zur Wahl schreite, nehme ich noch das Losungsbüchlein zur Hand. Für jeden Tag im Jahr werden Bibelverse gelost. Oder anders gesagt ein Vers der Bibel sucht sich seinen Tag aus, zu dem er etwas sagen möchte. Oder der Tag sucht sich seinen Vers, der zu ihm passen mag. Wer weiß das schon. Heute steht da zu lesen: "Als meine Seele in mir verzagte, gedachte ich an den Herrn, und mein Gebet kam zu dir."

Dieser Vers zum Tag erinnert an einen der schwärzesten Tage, im Wortsinn, den die Bibel zu bieten hat. Der Prophet Jona gedachte an den Herrn im Innersten des Wals, der ihn verschlungen hatte. Jona war verloren, seine Seele verzagte, um ihn herum nichts als Dunkelheit, die Verzweiflung hatte ihn gepackt, das Ende nahe, da gedachte er des Herrn und betete.

"Und Jona betete zu dem Herrn, seinem Gott, im Leibe des Fisches und sprach: Ich rief zu dem Herrn in meiner Angst, und er antwortete mir. Du warfst mich in die Tiefe, mitten ins Meer, dass die Fluten mich umgaben. Alle deine Wogen und Wellen gingen über mich, dass ich dachte, ich wäre von deinen Augen verstoßen. Wasser umgaben mich bis an die Kehle, die Tiefe umringte mich. Ich sank hinunter zu der Berge Gründen, der Erde Riegel schlossen sich hinter mir." (Jona 2,2-7 in Auszügen)

Und sein Gebet kam zu Gott. Und die Geschichte nahm eine wundersame Wendung. Der Wal spie Jona aus. Die Dunkelheit wich dem Licht. Sein Gebet, das der Verzweiflung über das Ende entsprungen war, wurde zu einem neuen Anfang.

Martin Luther, der große Reformator, dem die Schwärze der Seele und ihre Verzagtheit nicht fremd gewesen sind, hat seine Lehren aus dem Gebet des Propheten Jona gezogen: "Rufen musst du lernen und nicht auf der Bank liegen, den Kopf hängen lassen und dich mit deinen Gedanken beißen und fressen, sorgen und suchen, wie du es loswerdest. Sondern wohlauf, die Hände und Augen gen Himmel erhoben, einen Psalm vorgenommen und deine Not vor Gott dargelegt, ihm geklagt und ihn angerufen."

Heute passt die Losung gar nicht so recht zu dem Tag. Die Sonne scheint, der höchste Feiertag, den die Demokratie zu bieten hat, der kann kein schwarzer Tag sein. Also nach dem Studium der Bibel hinein in den Anzug und zur Wahlzelle geschritten, um stolz meine Bürgerpflicht zu erfüllen.

Doch es kann schon sein, dass sich die eine oder der andere der Kandidaten und Kandidatinnen oder auch der Wählerinnen und Wähler des Abends, wenn das Ergebnis feststeht, fühlt wie im Bauche des Wals, von Dunkelheit und Verzweiflung umgeben. Dann heißt es, nicht auf der Bank liegen bleiben, den Kopf hängen lassen und sich mit seinen Gedanken beißen und fressen, sondern wohlauf, die Hände und Augen gen Himmel erhoben, klagen und rufen.

Und dann heißt es, erhobenen Hauptes seinen Auftrag zu erfüllen. So wie Jona gerettet wurde, um seinen prophetischen Auftrag zu erledigen, so sind alle, ob Wahlverlierer oder Wahlsieger, gerufen, ihren Auftrag zu erfüllen. Denn eine demokratische Wahl trennt die politischen Parteien nicht in Sieger und Verlierer, sondern in Regierung und Opposition. Beide Seiten gehören zu unserer Demokratie und haben ihren Wert in sich. So wird es heute Abend keinen Grund geben, dass die Seele verzagt und im Dunkel versinkt. Gott aber wird sich einige Stoßgebete anhören müssen. Da bin ich sicher!

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