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Warum wir gerade jetzt ein starkes soziales Netz brauchen

"Der Elefant im Weltladen". Anhand einer Grafik, die die Einkommen weltweit in den vergangen 30 Jahren darstellt, erklärt der Sozialexperte der Diakonie, Martin Schenk, warum ein starkes soziales Netz besonders wichtig ist. - Gestaltung: Martin Gross

Er hat einen breiten, hohen Rücken, der Kopf mit Mund geht nach unten, der Rüssel zeigt nach oben. Der Elefant, der da über die Erdkugel spaziert, bildet die Entwicklung der Einkommen in den letzten 30 Jahren ab. In einer Grafik, die als Elefantenkurve bekannt geworden ist.

Beim Schwanz hinten, ganz unten wird der arme, abgehängte Teil der Weltbevölkerung sichtbar. Dort, wo sich des Elefanten Rücken befindet, ist der Anstieg der Einkommen der städtischen Mittelschichten in China und Indien abgebildet. Dort, wo der Mund nach unten geht und der Rüssel seinen Anfang nimmt, kann man die unteren Mittelschichten Europas und der USA erkennen, im aufgerichteten Rüssel sehen wir die Zunahme des Reichtums der Reichsten.

Die Elefantenkurve, die auf den Weltbankökonomen Branko Milanovic zurückgeht, zeigt uns vier Entwicklungen: 1. Es gibt Regionen dieser Erde, die weiter bitter arm sind. 2. Es gibt eine Verbesserung der Einkommen in den städtischen Milieus Asiens, besonders in China. 3. Es gibt einen Verlust bei den unteren Mittelschichten in Teilen Europas und den USA. 4. Es gibt mehr Reichtum ganz oben. Die Gruppe der Superreichen mit mehr als 2 Milliarden Dollar Vermögen hat sich verfünffacht und ihr Gesamtbesitz mehr als verdoppelt.

Zusammengefasst: Die großen Gewinner sind die Mittelschichten Asiens und die Superreichen im Westen, die großen Verlierer die Angehörigen der unteren Mittelschicht in den USA und Teilen Europas. Die Elefantenkurve beim Rüssel zeigt uns noch ein interessantes Detail: Der Rückgang der Mittelschicht im Westen ist dort am stärksten, wo der Sozialstaat geschwächt und abgebaut wurde. Ersichtlich in den USA, Großbritannien oder Spanien.

Bei einem genaueren Blick auf die Mitte werden unterschiedliche Teile dieser - oft fälschlicherweise als einheitlich dargestellten - Schicht sichtbar. DIE Mitte gibt es nicht. Bezieht man neben Einkommen auch Konsum und Vermögen in die Analyse ein, dann zerfällt die Mitte in einen Teil mit Vermögen und in einen ohne, in einen mit Rücklagen und in einen ohne. Die untere Hälfte hat kaum nennenswerten Besitz.

Wobei "Unten" und "Mitte" einander näher sind als "Mitte" und "Oben". Und das macht einen Riesenunterschied. Die untere Mittelschicht lebt nämlich solange in relativem Wohlstand mit Mietwohnung, Auto, Urlaub, Hobbies und Zukunftschancen für die Kinder, so lange Systeme des sozialen Ausgleichs existieren. Ihre Lebensqualität wird durch den Sozialstaat möglich gemacht. Pensionsversicherung, Kranken- und Arbeitslosenversicherung, geförderte Mietwohnungen und öffentliche Schulen sichern den Lebensstandard und verhindern gerade in unsicheren Zeiten ein Abrutschen nach unten.

Die untere Mitte hat aber kein Vermögen, um Einschnitte wie Krankheit oder Arbeitslosigkeit einfach aufzufangen. Und wäre sie gezwungen, Vermögen für Alter, Bildung, Krankheit oder Arbeitslosigkeit anzusparen, wäre ihr Lebensstandard und ihr Konsumniveau vernichtet. Die Mitte ist dort weniger gefährdet, wo es ein starkes Netz sozialer Sicherheit gibt.

Der Sozialstaat ist nicht in erster Linie für die Armen da, sondern für alle. Und besonders stabilisierend wirkt er für die Mitte der Gesellschaft. Das zeigt uns die Elefantenkurve. Ein starkes soziales Netz stützt die Mittelschichten, und wer die Mittelschichten stützt, stützt die Demokratie.

Dort, wo des Elefanten Kopf nach unten geht und der Rüssel seinen Anfang nimmt, kann man die gefährdeten unteren Mittelschichten Europas und der USA erkennen, im aufgerichteten Rüssel sehen wir die Zunahme des Reichtums der Reichsten. Der Elefant, der da über die Erdkugel spaziert, bildet die Gewinner und Verlierer der letzten 30 Jahre ab. Sein drohend gesenkter Kopf und sein erhobener Rüssel sagen uns aber auch, wo wir gegensteuern müssen.

Service

Buch, Martin Schenk und Martin Schriebl-Rümmele, "Genug gejammert! Warum wir gerade jetzt ein starkes soziales Netz brauchen", Ampuls Verlag

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