John Storgårds

MARCO BORGGREVE

Das Ö1 Konzert

Lili Boulanger und Gustav Mahler

BBC Symphony Orchestra, Dirigent: John Storgårds; Susanna Hurrell, Sopran. Lili Boulanger: a) D'un matin de printemps; b) D'un soir triste * Gustav Mahler: Symphonie Nr. 4 G-Dur (aufgenommen am 3. November 2017 in der Barbican Hall, London). Präsentation: Peter Kislinger

Eine Offenbarung: Lili Boulanger

Der finnische Dirigent John Storgårds erlangte von den Kompositionen der 1918 im Alter von 24 Jahren - vermutlich an der Autoimmunkrankheit Morbus Krohn - verstorbenen, hoch begabten Lili Boulanger erst im Vorjahr Kenntnis. Die Musik der beiden kurze Werke, deren Energie und der formalen Gestaltungskraft der Komponistin waren für ihn eine "Offenbarung". Das Diptychon ist im letzten Lebensjahr der Komponistin entstanden.


Die Welt als ewige Jetztzeit

"Bedächtig. Nicht eilen", "In gemächlicher Bewegung. Ohne Hast", "Ruhevoll"; "Sehr behaglich": Kapitelüberschriften eines Romans in Tönen, der 1901 uraufgeführten 4. Symphonie von Gustav Mahler. Sie lesen sich wie ein Gegenprogramm zur modernen Zeit - gegen Hast, Eile, lärmendes Gewusel und Unbehagen. Widerspruch und Widersprüche sollen sich über die Musik vermitteln. Mahler gibt innerhalb der ersten 90 Takte Anweisungen wie: frisch, breit gesungen; nicht eilen, poco ritardando - also "etwas zögernd, langsamer werdend", dann sofort "schwungvoll", drei Takte später "plötzlich langsam", zugleich aber "etwas fließender", keine vier Takte später: "wieder gemächlich", aber doch "fließend" und "keck, "balladesk", dem sogleich "wieder sehr ruhig und zurückhaltend" folgt, Zusatz: "etwas zurückhaltend". Gleich am Anfang, Flöten und Schellen, bitte "kein ritardando", Geigen und Klarinetten sehr wohl. Das Hauptthema? Mit einem wienerischen Grazioso-Auftakt, in den Violinen.
"Die Welt als ewige Jetztzeit" wollte Mahler den 1. Satz zunächst überschreiben. Die Welt? Das dürre, öde Alltags-Dasein, das Kunstgeschwätz, die Lügen der Welt und die der Kunst, der ekle, schale Sumpf - alles Worte des 19-jährigen Mahler. "Erst die Verzweiflung und die Hinnahme", schrieb er in einem Brief, geben "Kraft, sich an den Schmerz zu klammern, den einzigen Tröster." Das sagt auch Mahlers Musik, ohne Programm-Musik zu sein.

Der Vorschein des Anderen

Der 2. Satz, das Scherzo, seiner 4. Symphonie ist mit "In gemächlicher Bewegung. Ohne Hast" überschrieben. Mahler verlangt von der 1. Geige: "Wie eine Fiedel, sehr zufahrend, sehr hervortretend". Die geistleere, gemächliche Bewegung der Musik unterbricht Mahler nach etwa sieben Minuten mit außerweltlicher Musik.

. den Trotteln von Richtenden und Hörenden nichts verraten.

Der 3. Satz ist mit "Ruhevoll" überschrieben. Nach 314 Takten glaubt man schon, es hätte sich ausgesungen. Der österreichische Komponisten Ernst Krenek hat einmal eine Analyse des Satzes vorgelegt. Diese Stelle allerdings machte den Wortmächtigen sprachlos: "Und dann geht der Himmel auf." Die Partitur: "Vorwärts. Luftpause! Viel Bogen, viel Bogen wechseln und - Schalltrichter auf!" Dieser Einbruch hat etwas Gewalttätiges an sich. Himmel, Paradies, völlig Neues, die "Entdeckung des eigenen Gemüts"? Das seien "alles Bilder, bloße Wegweiser, um den Hörer auf die Straße zu setzen, auf der ich mit ihm reisen will. . Ich wüsste mir wohl die schönsten Namen dafür, doch werde ich sie den Trotteln von Richtenden und Hörenden nicht verraten, damit sie sie mir wieder aufs albernste . verdrehen. Keine Musik ist etwas wert, von der man zuerst berichten muss, was darin erlebt ist oder was (man) zu erleben hat."

Kein weltlich Getümmel?

Das Schlusswort haben die Engelsgleichen - in hoffnungsfrohem D-Dur. "Englische Stimmen ermuntern die Sinnen, dass alles für Freuden erwacht." Mahlers himmlische Tonart ist E-Dur, wie schon im 3. Satz. "Im Himmel" überschreibt er den 4. Satz, unter Anführungszeichen. "Kein weltlich Getümmel im Himmel, sanfteste Ruh, tanzen und springen." Ohne Leid geht es selbst im Paradies nicht: Das wird ein "gedulg's unschuld's liebliches Lämmlein zu Tode geführt." Abgrundtief traurig wird die Musik, wenn es heißt: Sankt Martha die Köchin muss sein.

Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: Lili Boulanger/1893 - 1918
Titel: D'un Matin de Printemps - Stück für Orchester
Orchester: BBC Philharmonic Orchestra
Leitung: John Storgards
Länge: 05:00 min
Label: EBU

Komponist/Komponistin: Lili Boulanger/1893 - 1918
Titel: D'un Soir Triste - Stück für Orchester
Orchester: BBC Philharmonic Orchestra
Leitung: John Storgards
Länge: 11:00 min
Label: EBU

Komponist/Komponistin: Gustav Mahler/1860 - 1911
Vorlage: aus "Des Knaben Wunderhorn"
Titel: Symphonie Nr.4 in G-Dur für Sopransolo und Orchester
* Bedächtig, nicht eilen - 1.Satz
* In gemächlicher Bewegung, ohne Hast - 2.Satz
* Ruhevoll - 3.Satz
* Sehr behaglich. "Wir genießen die himmlischen Freuden" - 4.Satz
Orchester: BBC Philharmonic Orchestra
Leitung: Jon Storgards
Länge: 57:18 min
Label: EBU

Komponist/Komponistin: Mélanie Bonis (verh. Domange)
Album: SOLITAIRES - BOULANGER TRIO
* Soir (Abend) op.76 Nr.1 (00:03:51)
Titel: Soir-Matin op.76 - für Violine, Violoncello und Klavier
Klaviertrio
Ausführende: Boulanger Trio
Ausführender/Ausführende: Birgit Erz /Violine
Ausführender/Ausführende: Ilona Kindt /Violoncello
Ausführender/Ausführende: Karla Haltenwanger /Klavier
Länge: 04:00 min
Label: AVI MUSIC 85533459

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