Ultra-orthodoxe Juden betend

AFP/JACK GUEZ

Gedanken für den Tag

David Weiss zum jüdischen Versöhnungstag Jom Kippur

"In die Wüste geschickt". Der Schriftsteller David Weiss macht sich Gedanken über Sündenböcke und Neuanfänge. - Gestaltung: Alexandra Mantler

Gerade eben mit meiner Frau aus Österreich und Deutschland in die USA gezogen, fühlen wir beide uns wie das sprichwörtliche "fahrende Volk": ständig unterwegs, dauernd auf Achse, immer auf Wanderschaft. Sesshaft sein, also leben und sterben an nur einem Ort, erscheint vor diesem Hintergrund wie ein Traum.

Es wussten schon die alten Römer, dass sie nicht die ersten waren und lange nicht die letzten sein würden, die an den Küsten des Mittelmeers siedelten. Heute noch daheim, schon morgen in der Diaspora. Bevölkerungen wechselten mit den Jahren und den Gezeiten. Ein Einwanderungsland wie die USA wurde und wird in Wellen besiedelt. Für Neuankömmlinge fühlen sich manche Bereiche des Alltags darum wie Zeitkapseln an.
Alles scheint aus der eigenen Geschichte seltsam vertraut, und doch gestaltet sich die Gegenwart völlig fremd. Das beginnt beim Gebrauch von Messer und Gabel und endet bei Schreiben und Anreden im Job. Leise höre ich den Taktstock des Tanzmeisters in Gehrock und Perücke. Was wie zwang- und schrankenlose Freundlichkeit erscheint, ist in Wahrheit Ritual. Inzwischen habe ich aufgehört zu vergleichen. Hier herrschen andere Regeln, die muss ich lernen.

Das bedeutet nicht, dass ich meine Herkunft vergesse. Ich kann sie ablehnen und verdrängen. Aber das macht niemanden glücklich. Kaum jemand tut es. Im Gegenteil, es wird gepflegt, verklärt und bewahrt, was andernorts längst überwuzelt ist. An meinem Akzent hört jeder, dass ich aus Übersee bin. Es gibt nur eine Stadt auf der Welt, wo man so spricht wie ich. Damit mussten sich hier viele abfinden. Egal wo ich den Mund aufmache, wechseln die Gesprächsthemen schnell zu Wien und Österreich. Das macht mich schon ein wenig ärgerlich. Ich habe nicht den Atlantik überquert, um ständig über mich zu reden. Ich wollte Neues kennenlernen. Ich gebe mich keinen Illusionen hin, in den USA bin ich der Tschusch.

Ich hatte gedacht, mich gut arrangiert zu haben. Bis ich eine Erfahrung machte, die früher oder später alle Migranten erleben. Mittels Sozialer Medien halte ich Kontakt nach Hause, zu meiner Familie und zu meinen FreundInnen. Bis es dort in einem Thread nach acht Monaten Auslandsaufenthalt plötzlich hieß, dass ich nicht in Wien lebe und daher nicht weiß "wie es bei uns" zugeht. Mit einem Mausklick war meine Meinung blockiert, ich war kein Gruppenmitglied mehr und wurde als Sündenbock in die Wüste geschickt.

Service

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Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: David Bellamy
Komponist/Komponistin: Howard Bellamy
Album: NATIVE AMERICAN
Titel: Elvis, Marilyn and James Dean
Ausführende: The Bellamy Brothers /Gesang m.Begl.
Länge: 02:54 min
Label: Ariola 74321302762

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