Ein junger Mann spielt Gitarre

ASSOCIATED PRESS

Radiokolleg

Russische Gitarrenlyrik

Zwischen Poesie und Regimekritik (1). Gestaltung: Brigitte Voykowitsch

Sergej Nikitin war 14 Jahre alt, als er erstmals ein Lied des Dichters und Chansonniers Bulat Okudschawa hörte und daraufhin beschloss, Gitarre zu lernen. Es war Ende der 1950er Jahre. Nach Stalins Tod hatte der neue sowjetische Machthaber Nikita Chruschtschow ein politisches Tauwetter eingeleitet. Eine neue Dichter- und Sängergeneration wagte es, das auszudrücken, was im offiziellen Kulturschaffen unterdrückt wurde.

Bulat Okudschawa begründete ein Genre, das später als Autorenlied oder Gitarrenlyrik bezeichnet wurde. Im Kontrast zum heroischen Pathos und dem künstlichen Frohsinn des staatlich verordneten Kunststils vermittelten diese Lieder ein weites Spektrum von Inhalten - von authentischen menschlichen Gefühlen und Sehnsüchten bis hin zu scharfer Regimekritik. Die Texte durften nicht gedruckt werden, Schallplattenaufnahmen konnten die berühmtesten Liedermacher wie Bulat Okudschawa, Alexander Galitsch und Wladimir Wyssozkij nicht machen.

Doch inoffiziell fanden die Lieder - vor allem auch dank des Tonbands, das damals verfügbar wurde, eine weite Verbreitung. Studenten formierten sich in Singbewegungen, ausgehend vom Moskauer Staatlichen Pädagogischen Institut. Es war das einzige, an dem Kinder von politisch Verfolgten der Stalinzeit relativ problemlos aufgenommen wurden. Sergej Nikitin studierte Physik, spielte Gitarre und sang in mehreren Ensembles, bevor er mit seiner Frau Tatjana, auch sie eine Physikerin, vor allem im Duo auftrat.

Im Unterschied zu den Liedermachern Okudschawa, Galitsch und Wyssozki verfassten die Nikitins keine eigenen Texte. Sie wählten Gedichte bedeutender russischer Poeten, und Sergej Nikitin vertonte sie. Die Physik, sagt Sergej Nikitin, war ein von sozialistischer Ideologie weitgehend freier intellektueller Raum, die mit Gitarrenbegleitung gesungene Poesie ein Raum der geistigen Freiheit. Im März wird Sergej Nikitin 75 Jahre alt. Als Physiker sind die Nikitins in Pension, doch Konzerte geben sie bis heute.

Service

Jekaterina Lebedewa: Komm Gitarre, mach mich frei! Russische Gitarrenlyrik in der Opposition. Verlag Frank & Timme, Berlin 1992

Katja Lebedewa und Kay Borowsky: Russische Liedermacher: Wyssozkij, Galitsch, Okudschawa. Reclam 2000

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