Zwischenruf

Christine Hubka über das "gefährliche" Buch Bibel

Die evangelische Theologin und Gefängnisseelsorgerin Christine Hubka erzählt, wann und wo die Bibel als gefährliches Buch gilt. - Gestaltung: Brigitte Krautgartner

Als ich Theologie studiert habe, war Europa noch durch den so genannten eisernen Vorhang geteilt. In den Osterferien fuhr ich zu Freunden in die damalige DDR nach Dresden. Die Frauenkirche lag noch in Trümmern. Erst viele Jahre später hat man sie wie ein großes Puzzle wieder zusammengesetzt.

An der Grenze zwischen der Bundesrepublik Deutschland und meinem Reiseziel, der DDR, gab es lange Warteschlangen. Jedes einreisende Auto wurde genau durchsucht, seine Insassen penibel befragt, die Pässe ins Zollhaus getragen und dort - ja, ich weiß gar nicht, was die dort mit meinem Pass gemacht haben. Es dauerte gefühlte und geschwitzte Ewigkeiten, bis der Zollbeamte mir meinen Pass wiedergebracht hat.

Dann kamen noch drei hochnotpeinliche Fragen: Haben sie Waffen bei sich? Im Kopf erwog ich die Antwort: Soll ich mein Taschenmesser angeben? Das hab ich ja immer bei mir. Nicht als Waffe, sondern für alle möglichen anderen Fälle. Ich habe den Kopf geschüttelt und "nein" gesagt und befürchtet, dass sie meine Handtasche durchsuchen und das Messer finden und ... ja keine Ahnung, was dann passieren wird. Nächste Frage: Haben Sie pornographische Literatur bei sich? Das ist einfach. Habe ich nicht. Die letzte Frage überrascht mich: Haben sie eine Bibel bei sich?

Aber ja, natürlich. Ich bin Theologiestudentin. Ich fahre auf Besuch zu einer evangelischen Gemeinde in Dresden. Dort werden wir auch über biblische Inhalte sprechen. Und natürlich habe ich meine Luther-Bibel immer auf Reisen mit. Der Zöllner runzelt die Stirn und schaut böse. Ich muss aussteigen. Er will die Bibel sehen. Wie schaut eine Bibel aus? Meine ist nicht besonders dekorativ. Der blaue Einband ist aus Plastik. Nicht schön, aber praktisch. Die Seiten sind hauchdünn und entsprechend anfällig. Manche sind schon ein wenig lose und hängen nur an einem Zipfel mit dem Rest zusammen. Manche haben Eselsohren. Insgesamt merkt man meiner Bibel an, dass sie nicht nur im Regal gestanden ist.

Ich öffne den Kofferraum. Mache den Koffer auf. Hole die Bibel heraus. Der restliche Inhalt des Koffers scheint den Mann nicht zu interessieren. Ich halte ihm die Bibel hin. Er nimmt sie, blättert darin. Ich fürchte, dass die fast losen Seiten ganz den Zusammenhalt verlieren, weil er so heftig damit umgeht.

Er schaut mich an und fragt: Was machen Sie mit der Bibel? Hm, was kann man mit einer Bibel denn noch machen, wenn man sie nicht gerade liest. Jahrzehnte später erfahre ich, dass man die dünnen Seiten zur Not auch als Zigarettenpapier verwenden kann, wenn man nichts Besseres hat. Aber jetzt weiß ich keine Antwort. Er insistiert. Fragt noch einmal: Was machen Sie mit der Bibel? Ich antworte: Na lesen, was sonst.

Pause. Er denkt. Ich zittere. Sehe mich schon beim nächsten Telefon, um den Freunden in Dresden mitzuteilen, dass ich nicht einreisen darf. Die Zeit steht still. Er blättert . scheint hier und da ein wenig zu lesen. Findet er jetzt die Stelle im Alten Testament wo steht, dass Schwerter zu Pflugscharen umgeschmiedet werden sollen? Das war damals der Leitspruch der oppositionellen Jugendbewegung in der DDR. Oder blättert er das Evangelium auf, wo genau das Gegenteil steht und Jesus sagt: Ich bin nicht gekommen, den Frieden zu bringen, sondern das Schwert?

Endlich legt er die Bibel neben meinen Koffer, dreht sich wortlos um und geht weg. Ich verstehe das als Signal, dass ich weiterreisen darf. Bis ich endlich in Dresden ankomme, bewegt mich die Frage, wieso im Land der Reformation die Bibel als gefährliches Buch gilt. So gefährlich wie Waffen. So verwerflich wie Pornographie. Ich denke auch an die Zeit der Gegenreformation, als der Besitz von Bibeln in Privathäusern Menschen verdächtig gemacht hat.

Jahrzehnte sind inzwischen vergangen. Ungehindert kann ich heute meine Freunde in Dresden besuchen und so viele Bibeln mitnehmen, wie ich will. Als Gefängnisseelsorgerin erlebe ich heute, dass die Bibel in der Muttersprache Menschen in Haft einen letzten Halt geben kann. Mit Hilfe der Bibelgesellschaft war es bis vor kurzem leicht möglich, ihnen Bibeln auch in für mich eher ausgefallenen Sprachen zu schenken. Zum Beispiel in Farsi oder Chinesisch. Um religiösen Radikalismus abzuwehren, ist dies in letzter Zeit nur erschwert möglich. Es scheint, dass die Bibel wieder als gefährliches Buch gilt. Aber vielleicht ist sie auch für manche gefährlich, schließlich steht dort auch zu lesen: Gott stürzt die Mächtigen vom Thron und richtet die Unterdrückten auf.

Sendereihe

Gestaltung