Das bemalte Ohr des Radiokulturhaus

ORF/URSULA HUMMEL-BERGER

Radiokolleg - Das Lied, das klebt

Eine kleine Typologie des Ohrwurms (3). Gestaltung: Thomas Mießgang

Es gibt diese Lieder, die sich im Gehörgang und im Gehirn einnisten, und nicht mehr daraus zu vertreiben sind, ganz egal, was man unternimmt. Im Deutschen sagt man Ohrwurm dazu, im Englischen analog Earworm, das Spanische hingegen wählt die umschreibende Bezeichnung Melodia pegadiza - eine Melodie, die klebt. Der deutsche Begriff für das insistente Lied, das nicht mehr weichen möchte, leitet sich übrigens von den gleichnamigen Insekten ab, die nach volkstümlicher Vorstellung gerne in die Ohren kriechen. Lateinisch heißt der gemeine Ohrwurm Forficula auricularia.

Woran liegt es nun, dass eine Tonfolge das Bewusstsein infiltriert und infiziert wie ein böses Virus? Die Gedächtnisforschung hat festgestellt, dass die Wahrscheinlichkeit des "Einschaltens", also der Wiedererinnerung und der Festsetzung eines Ohrwurms dann am größten ist, wenn das Arbeitsgedächtnis wenig ausgelastet ist, zum Beispiel bei Routine-Arbeiten, Autofahren oder Spazierengehen. Ohrwürmer können dann freie Kapazitäten des Arbeitsgedächtnisses besetzen und sich dort festsetzen. Am besten, heißt es in neurophysiologischer Fachliteratur, sind sie durch erhöhte andere Anforderungen aus dem Arbeitsgedächtnis zu vertreiben. Es empfiehlt sich also, wenn sich ein Lied festgeklebt hat, beispielsweise zur "Phänomenologie des Geistes" von Hegel zu greifen - damit ist eine umfassende Auslastung des Arbeitsgedächtnisses garantiert.

Der Musikwissenschaftler Jan Hemming ist der Auffassung, dass ein Ohrwurm unbewusst und unwillkürlich aus der Erinnerung hervortrete und subjektiver Natur sei: "Ohrwürmer sind eine emotionale Angelegenheit und treten vor allem bei Musikstücken auf, denen man entweder sehr positiv oder sehr negativ gegenübersteht."

Es gibt aber auch pathologische Formen des Ohrwurms wie die Krankheit Tinnitus, die man, unmedizinisch formuliert, als Dauergeräusch im Ohr bezeichnen könnte. Es handelt sich dabei um eine verstärkte Aktivität der Neurone in der Hirnrinde, die, so legen es neuere Studien nahe, in der lärmverschmutzten Gegenwart eher zunimmt.

Ohrwürmer sind aber nicht nur lästig, sondern durchaus auch erwünschte Phänomene, die auf unterschiedliche Weise kommerziell und kommunikativ genutzt werden können: Die ganze Jingle- und Signation-Industrie basiert auf kleinen wiedererkennbaren Klangpartikeln und im Signalraum Stadt ist zu beobachten, dass, etwa bei Verkehrsleitsystemen, die einstige Dominanz des Visuellen zunehmend von akustischen Impulsen herausgefordert wird.

Von welcher Perspektive man das Phänomen aber auch betrachtet - der Ohrwurm ist ein vielgestaltiges, und, sowohl im Positiven wie im Negativen, nachhaltiges Phänomen. Warum, das beschreibt die Popgruppe Wise Guys knapp und bündig in einer Textzeile: "Weil ich in deinen Ohren steck und ich geh hier nie mehr weg."

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Sendereihe

Gestaltung

  • Thomas Mießgang

Playlist

Komponist/Komponistin: Arovane
Titel: Corm
I: Arovane
Label: Karlrecords KR041

Komponist/Komponistin: Christina Kubisch
Titel: Electrical Walks
I: Christina Kubisch
Label: Important Records IMPREC167

Komponist/Komponistin: Mozart
Titel: Violinkonzert B-Dur
I: Henryk Szering
Label: Philips 6747 376

Komponist/Komponistin: Young Johnson
Titel: Hells Bells
I: AC/ DC
Label: Atlantic 11 650

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