Wasser, Gras und Sonnenuntergang

AP/ROBERT F. BUKATY

Gedanken für den Tag

Julia Schnizlein über Kraft- und Informationsquellen

"Zu den Quellen". Die Pfarrerin der Lutherischen Stadtkirche Wien, Julia Schnizlein, fragt nach moderner Quellenkritik

Ad fontes - zurück zur Quelle lautet ein zentrales Motiv der Reformation, an die sich die evangelische Kirche am Reformationstag zurückerinnert. Eines der großen Anliegen Martin Luthers ist es gewesen, die Bibel wieder ins Zentrum des Glaubens zu stellen. Dazu übersetzt er sie ins Deutsche, so dass alle Christinnen und Christen selbst darin lesen und sich informieren können.

Damit verliert die Kirche ihr bisheriges Monopol auf Vermittlung und Deutung der christlichen Religion. Luther mutet den Menschen selbst die Bibel zu, er mutet ihnen zu, dass sie auch die Widersprüche aushalten, auf die sie stoßen werden. Denn jeder aufmerksame Leser findet in der Bibel Widersprüche. Allein die vier Evangelien erzählen ihr jeweiliges Jesusporträt mit völlig anderem Focus und unterschiedlichen, teils widersprüchlichen Details. Schon auf die nicht unbedeutende Frage, wem Jesus nach seiner Auferstehung als erstes erschien, gibt es drei unterschiedliche Antworten.

Offensichtlich haben die Menschen in der Zeit der Reformation solche Widersprüche aber ausgehalten. Sie konnten damit leben, dass es manchmal keine Klarheit und nicht nur die eine Wahrheit gibt. Eine Gabe, die vielen Menschen heute abhandengekommen zu sein scheint. Viele sehnen sich nach klaren Ansagen und eindeutigen Aussagen. Widersprüche werden als Inkompetenz oder mutwillige Täuschung ausgelegt. Dieses Phänomen hat sich gerade angesichts der Corona-Pandemie sehr deutlich gezeigt.

Schon im Februar hat der Generaldirektor der WHO gewarnt, dass es die Welt nicht nur mit einer Pandemie, sondern auch mit einer "Infodemie" zu tun hat. Wer Unsicherheit und Widersprüche nicht aushalten will, sondern lieber simple, wenn auch abstruse Erklärungen sucht, der findet im Netz für alles und jedes eine eigene Verschwörungserzählung. Faktenchecks werden als Teil der sogenannten "Systemmedien" abgelehnt und Menschen verlieren sich immer häufiger in Parallelwelten - in einem großen virtuellen Verschwörungskosmos.

Die große Herausforderung heutzutage liegt nicht mehr darin, sich Quellen zu beschaffen, sondern Quellen kritisch zu hinterfragen und zu lernen, auch Ungewissheiten und Widersprüche auszuhalten.

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Übersicht

Playlist

Komponist/Komponistin: Georg Philipp Telemann
Album: TELEMANN & LUTHER: "EIN FESTE BURG IST UNSER GOTT"
* Moderato - 1.Satz (00:01:52)
Titel: Sonate für Violine, Viola da gamba, Cembalo, Traversflöte und Oboe d'amore in G-Dur TWV 43:G13
Ausführende: Concerto Melante
Leitung: Raimar Orlovsky
Ausführender/Ausführende: Verena Fischer /Traversflöte
Ausführender/Ausführende: Saskia Fikentscher /Oboe d'amore
Ausführender/Ausführende: Raimar Orlovsky /Violine
Ausführender/Ausführende: Ulrich Wolff /Viola da gamba
Ausführender/Ausführende: Léon Berben /Cembalo
Länge: 01:52 min
Label: deutsche harmonia mundi 889853

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