Das Foto zeigt das Urmanuskript (1844) des Bilderbuches "Der Struwwelpeter".

APA/GERMANISCHES NATIONALMUSEUM NÜRN/ALTMANN/HOFFMANN

Tonspuren

Sieh einmal, hier steht er ...
Die 175-jährige Erfolgsgeschichte des Struwwelpeters
Feature von Renate Maurer

Frankfurt 1844, zur Weihnachtszeit. Der Arzt Heinrich Hoffmann durchstöbert die Buchläden nach einem leichten, lustigen Bilderbuch für seinen dreijährigen Sohn. Vergeblich. Also malt und reimt er das Weihnachtsgeschenk für den Kleinen selbst. Sechs Mini-Dramen über widerspenstige Kinder und einen schlauen Hasen, die Bilder im karikaturistischen Stil. Die Verwandten und Freunde sind entzückt: "Das musst Du drucken lassen!" 1845 erscheint das Werk im Verlag des befreundeten Buchhändlers Zacharias Löwenthal unter dem Titel: "Lustige Geschichten und drollige Bilder". Ein Vorläufer des Comics und etwas ganz Neues in der Kinderliteratur des Biedermeier. Der Struwwelpeter ist da noch ein zartes, zerzaustes Kind mit roten Haaren auf der letzten Seite.

Es folgt eine Bilderbuch-Karriere: eine Auflage nach der anderen, Übersetzungen in ganz Europa und Amerika und 1859 eine komplett neu gezeichnete Fassung - die Version, die zum Klassiker wurde. Das dünne Büchlein hat eine Flut von Nach- und Weiterdichtungen, politischen Parodien, Aktualisierungen und Bühnenadaptionen hervorgebracht, ist von allen Seiten erforscht und interpretiert worden. Gibt es da überhaupt noch Neues zu erzählen? Es gibt.

Wer zum Beispiel weiß schon, dass sich Hoffmann für die zweite Fassung von 1859 von den kunstvollen Illustrationen der russischen Übersetzung "Stepka- rastrepka" von 1849 inspirieren ließ? Das graziöse, elegant herausgeputzte Paulinchen beispielsweise - zuvor eher eine schlichte Gretel mit Schürze - ist von den Schleifen bis zu den Posen ein genaues Abbild der russischen Katja.
Oder die Geschichte mit Mark Twain. Im Herbst 1891, als er mit seiner Familie in Berlin lebte, übersetzte er den "Struwwelpeter". Das Manuskript legte er dann seinen drei Töchtern unter den Weihnachtsbaum. Zuvor hatte er sich allerdings mit der Veröffentlichung seines Werks in Amerika Riesengewinne erhofft, die Erlösung von seinen Schulden.

Das Projekt scheiterte. Erst 1935 brachte seine Tochter Clara den "Slovenly Peter" in New York heraus.
In den 1970er Jahren noch als Inbegriff der "schwarzen Pädagogik" verdammt, betrachtet man die grausamen und grotesken Übertreibungen des "Struwwelpeter" inzwischen mit mehr Gelassenheit. Die Kinder, sagt die Leiterin des Struwwelpeter-Museums in Frankfurt, lieben die Urgewalt der Geschichten, die Lust am Schrecklichen, den wohligen Schauder. Ihr Lieblingsspiel ist "Der Daumenlutscher".

Redaktion: Alfred Koch

Sendereihe

Gestaltung

  • Renate Maurer

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