Zwischenruf

Elmar Fürst zum "Welttag des Sehens"

Von Elmar Fürst, Ständiger Diakon in der Pfarre St. Johann Nepomuk und im Blindenapostolat der Erzdiözese Wien

Die Hilfsgemeinschaft der Blinden und Sehschwachen Österreichs ist ein bisschen wie eine große Familie. Blinde und sehbehinderte Menschen werden hier beraten, aber es gibt auch eine Reihe von Freizeitgruppen. Viele gute Freundschaften entstehen hier und die Menschen unterstützen sich unabhängig von Alter, Geschlecht, Religion, Herkunft oder einer Behinderung gegenseitig. Dieser Zusammenhalt und die Gemeinschaft sind wertvoll.

Vor ein paar Tagen fand ich in einer WhatsApp Gruppe unserer Gemeinschaft einen Beitrag, der mich nachdenklich gemacht hat. Eine sehbehinderte Freundin berichtete von einem Ereignis, welches sich in der Wiener U6 zugetragen hat.

Sie schreibt: Ein Freund und sie waren unterwegs, beide mit weißem Stock. Der Freund, schlecht zu Fuß, war froh, einen Sitzplatz erwischt zu haben. Eine ältere Dame bot auch ihr einen Platz an. Die Freundin hat sich vielmals bedankt aber gemeint, sie könne gut stehen. Daraufhin ließ die Dame die Bemerkung fallen, dass die Menschen heute vielfach nicht mehr darauf achteten, ob jemand dringender einen Sitzplatz benötige. Ein jüngerer Mann mit Laptop fühlte sich wohl angesprochen. Er sagte mit Blick auf die beiden im Originalton: "Und solchen behinderten Gfrastern muss man auch noch eine Pension zahlen."

Es geht - dieser Logik folgend - um eine Geisteshaltung: Menschen mit Behinderungen werden immer noch als "invalid" - also wertlos - angesehen. Viele glauben, dass man mit einer Behinderung kein lebenswertes, zufriedenes oder glückliches Leben führen könne. Es wird sogar manchmal geglaubt, Menschen mit Behinderungen wären nur "Empfänger" der Gesellschaft oder im Sozialsystem. Ich kann Ihnen sagen: Das Gegenteil ist der Fall. Es ist möglich, mit einer Behinderung glücklich zu sein, Karriere zu machen, einen ideellen aber auch finanziellen Beitrag für die Gesellschaft zu leisten. Es gibt tausende Beispiele.

Der diesjährige Welttag des Sehens, letzten Donnerstag, stand unter dem Motto: "everyone counts", also "jeder zählt" bzw. "zählt dazu". Damit soll darauf aufmerksam gemacht werden, dass jeder Mensch mit hoher Wahrscheinlichkeit spätestens im Alter selbst von einer Sehbehinderung betroffen sein wird. Sind Sie sich dessen bewusst, dass damit auch Sie gemeint sind?

Seit Jahren machen wir darauf aufmerksam: Menschen mit Behinderungen haben keine "besonderen Bedürfnisse". Sie brauchen nur Bedingungen, die ihnen entgegenkommen sowie den Respekt und die Achtsamkeit ihrer Mitmenschen. Etwa 15 Prozent der Bevölkerung haben irgendeine Form einer Behinderung. Hinzu kommen jene, die vorübergehend oder in bestimmten Situationen eingeschränkt sind, etwa durch ein Gipsbein, eine verlorene Brille oder schweres Gepäck. Bauliche Barrieren kann man beseitigen. Bei den Barrieren im Kopf wird es oft schwieriger.

Es kommt mir vor, unsere Gesellschaft leidet unter zunehmender Spaltung. Alte gegen Junge, nicht behinderte Menschen gegen behinderte Menschen, Geimpfte gegen Ungeimpfte, um nur einige Beispiele zu nennen. Dabei ist jeder Mensch, wie er von Gott geschaffen ist, einzigartig wertvoll. Haben wir Respekt vor unseren Mitmenschen und hören wir auf, darüber zu urteilen, ob ein Leben lebenswert ist. Wir sollten alle Menschen, auch jene mit Behinderungen, lieben und sie nicht im Mutterschoß, im Krankenbett oder in Gedanken töten. Das wäre mein Wunsch.

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