Zwischenruf

Benjamin Nägele über Erinnern und Gesellschaft mitgestalten

Von Benjamin Nägele, er ist Generalsekretär für jüdische Angelegenheiten der Israelitischen Kultusgemeinde Wien

Wenn ich heute in der Israelitischen Kultusgemeinde in der Seitenstettengasse im Herzen Wiens sitze, dann erfüllt mich zuallererst Stolz und Dankbarkeit.
Stolz, Teil einer einzigartigen und beeindruckenden Gemeinde mit solch einer Geschichte zu sein, sowie tiefe Dankbarkeit gegenüber einer kleinen Gruppe von Überlebenden, die sich daran gemacht hat, nach der Shoa jüdisches Leben in Wien wiederaufzubauen. Es waren wenige, nur etwa 2000 der einst über 200.000 Mitglieder zählenden jüdischen Gemeinde.
Wir sind stolz auf die großen Persönlichkeiten, die das Judentum hervorgebracht hat - und auf unsere Traditionen. Jüdisches Leben ist heute bunt und vielfältig. Was diese Menschen bei der Neugründung der IKG Wien gesät haben, trägt heute ihre Früchte in voller Pracht.

Wir sind heute wieder selbstbewusster Teil der österreichischen Gesellschaft, und Antisemitismus ist, obwohl wieder sichtbarer und aggressiver, zumindest in weiten Teilen der Bevölkerung, geächtet. Wir arbeiten eng mit Zivilgesellschaft, Kunst, Kultur, Politik und den Behörden zusammen, damit die Selbstverständlichkeit Jude und Jüdin in Österreich zu sein auch wieder bei allen Menschen in Österreich ankommt.

In diesen Tagen wird vielfach an die schmerzhafte Zäsur der Shoa erinnert:
Vor 77 Jahren wurde das Konzentrationslager Auschwitz von der Roten Armee befreit. Wie kein anderes Vernichtungslager der nationalsozialistischen Mordindustrie steht Auschwitz für den Zivilisationsbruch, der am 27. Jänner ins Zentrum des kollektiven Bewusstseins rückt.
Theodor Adorno hat mit Blick auf diese Zäsur der Menschheitsgeschichte den Imperativ postuliert, dass Auschwitz oder ähnliches nie wieder geschehen darf.

Dieser Haltung liegt auch die Einsicht zugrunde, dass der Antisemitismus im Gegensatz zu vielen anderen Ideologien der Ausgrenzung, die letztliche Vernichtung seiner Hassobjekte, der Jüdinnen und Juden, zum Ziel hat. Es ist für uns als jüdische Gemeinde sekundär, aus welcher Richtung der Antisemitismus kommt, da er in all seinen Erscheinungsformen bekämpft werden muss - nicht nur wegen uns Jüdinnen und Juden, sondern weil Antisemitismus uns alle betrifft und immer wieder versucht, unsere GANZE Gesellschaft in Abgründe zu reißen.

Auch in der 2. Republik haben wir wiederholt tödliche Anschläge verkraften müssen. Wir als IKG müssen jährlich mehr als 20 Prozent unseres Budgets in Sicherheit investieren und im ständigen Austausch mit den Sicherheitsbehörden sein, um die Basis für jüdisches Leben in Österreich gewährleisten zu können. Antisemitismus und die Erfahrung der Shoah sind leider Bestandteil dessen, wie Judentum heute wahrgenommen wird und es ist ein täglicher häufig unfreiwilliger Begleiter für uns.

Im Judentum steht ein Prinzip über allen anderen, über fast allen Geboten, über jeder Tradition, und das ist das Prinzip des Pikuach Nefesh. Der Schutz der Gesundheit, des Lebens eines jeden Einzelnen. Gerade jetzt bedeutet das, alles zu tun, was Corona-Ansteckungen verhindert - und mit gutem Beispiel für alle voran zu gehen. Denn das Judentum war und ist untrennbarer Teil der Gesellschaft.
Tagtäglich Gesellschaft aus einer jüdischen Perspektive aktiv mit zu gestalten, das ist das beste Mittel gegen Antisemitismus, und das beste Mittel zur Stärkung unserer demokratischen und vielfältigen Gesellschaft.

Sendereihe

Playlist

Komponist/Komponistin: Ernest Bloch
Titel: Drei Skizzen aus dem jüdischen Leben - für Violoncello und Klavier
* Prayer - 1.Satz (00:03:25)
Supplication - 2.Satz (00:02:25)
Jewish Song - 3.Satz (00:02:02)
Solist/Solistin: Raphael Wallfisch /Violoncello
Solist/Solistin: Linn Hendry /Klavier
Länge: 03:30 min
Label: Chandos 6552

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